Traurig blicken die Augen im dünnbärtigen, jungenhaften Gesicht des Mittdreißigers. So kennt man Liam Scarlett von Fotos her. Schon als Student an der Royal Ballet School London schien den aus Ipswich Gebürtigen die Aura des Besonderen zu umwehen, gewann er choreografische Preise. Als Tänzer im Royal Ballet seit 2006 wurde er 2008 First Artist und erarbeitete sich ein umfangreiches Repertoire von Ashton bis Ek. 2010 stellte er mit großer Resonanz das erste eigene Stück für die Kompanie vor, als damals Jüngster, dem diese Ehre zuteil wurde. Mit 24 Jahren, 2012, wechselte er endgültig zur Choreografie über, erhielt weltweit Gastaufträge und schuf zahlreiche abendfüllende Handlungsballette. Nicht bewiesene Anschuldigungen von Studenten der Royal Ballet School wegen angeblicher sexueller Belästigung kosteten ihn 2020 den Posten als Hauschoreograf. International setzte eine Hexenjagd auf ihn ein: Geächtet und in Bann getan, wurden alle Gasteinladungen annulliert, seine Stücke aus dem Spielplan entfernt. Einzig das Bayerische Staatsballett bewahrt den Anstand, die künstlerische Leistung vom persönlichen Verhalten zu trennen, und zeigt ein Auftragswerk. „With A Chance of Rain“ gerät so zum Epitaph auf einen fehlbaren Menschen, der sich möglicherweise in den Tauen seines Talents verfangen hat. Am 16. April teilte die Familie den Tod des 35-Jährigen mit – vielsagend ohne Angabe einer Ursache. Er hatte da wohl erkannt, dass er in seinem Beruf kaum wieder Fuß fassen würde. Ergreifende Nachrufe auch jener Personen und Institutionen, die ihn pflichtschuldig vorher verdammt hatten, sind zu erwarten.
Volkmar Draeger