„Sanguinic: con brio” Ch. Demis Volpi, mit Paula Alves, Niklas Jendrics, Rose Nougué-Cazenave © Bettina Stöß
Kritiken

Ballett am Rhein in Düsseldorf: „Vier Neue Temperamente“

Die Melancholie der vergangenen Zeit

Fotos: © Bettina Stöß 

Vor gut achtzig Jahren hat George Balanchine die „Vier Temperamente“ choreografiert, und noch immer hat man sich an dem Lehrstück in Sachen Tanz nicht sattgesehen. Dabei meint man das Werk inzwischen zu kennen, um bei jeder Wiederbegegnung doch immer wieder neue Facetten seiner unglaublich kreativen Musikalität zu entdecken. So auch bei der Einstudierung in Düsseldorf/Duisburg, mit der Ballettdirektor Demis Volpi das Signaturstück des seinerzeit noch gar nicht existierenden New York City Ballet ganz bewusst auf den Prüfstand stellt – indem er Balanchines Hindemith-Interpretation eben nicht wie sonst für sich allein stehen lässt, sondern mit Werken konfrontiert, die den thematischen Vorwurf aus zeitgenössischer Sicht neu interpretieren.

„Sanguinic: con brio”, Ch. Demis Volpi, mit Damián Torío, Svetlana Bednenko, Paula Alves

„Vier Neue Temperamente“ also, und den Anfang macht mit Michèle Anne de Mey eine Choreografin, die man im „klassischen“ Kontext des Rheinballetts nicht unbedingt erwarten würde. Die Belgierin ging bei Maurice Béjart in die Schule, arbeitete lange Zeit mit Anne Teresa de Keersmaeker, um schließlich gemeinsam mit dem Filmemacher und Lebensgefährten Jaco Van Dormael im Rahmen des Kollektivs Kiss&Cry eine neue Art von Sound & Vision Pieces zu entwickeln, die einen entfernt an die eines Alwin Nikolais erinnern könnten. Auch in „Phlegmatic summer“ dominiert zunächst einmal das Bild: eine von Gaspard Pauwels gefilmte Meereswoge, die wie ein Elementarereignis über die Bühne hereinbricht. Wellenartig auch die Bewegung des barfüßigen Kollektivs, sobald sich das Dunkel endlich lichtet und Vivaldis „Sommer“-Musik zumindest zeitweise aus dem Orchestergraben aufdämmert: eine wunderschöne Gruppenaktion, die allerdings nicht ganz die Schwachstellen einer durchweg kryptischen Choreografie vergessen macht.

„Phlegmatic Summer”, Ch. Michèle Anne de Mey, Marié Shimada, Ruben Cabaleiro Campo/Ensemble Ballett am Rhein

Ganz anders und ungleich eindeutiger temperiert der Beitrag von Demis Volpi. Er nennt ihn „Sanguinic: con brio“ und verweist damit im zweiten Teil des Titels auf die gleichnamige Musik von Jörg Widmann. So wie der Komponist zwar Beethoven zitiert, ihn aber auf zeitgenössische Weise hörbar macht, zitiert auch Düsseldorfs Ballettchef blitzartig das Bewegungsmaterial eines Balanchine, um es in der Folge dann doch als etwas Eigenes erscheinen zu lassen. Alles wirkt in diesem Bravourstück irgendwie überspannt, und doch geht nichts zu Bruch. Ja, selbst wenn der Choreograf die Fünfte Position des akademischen Balletts immer wieder als Grundmuster seiner Choreografie bemüht, bleibt er nie in der Vorbereitung seines Tanzes stecken. Virtuos variierend, animiert er seine Kompanie vielmehr zu einem künstlerischen Höhenflug, der für die Zukunft des Rheinballetts zu den schönsten Hoffnungen berechtigt. Passend dazu die Interpretation der „Clapping Music“ von Steve Reich, mit der Volpi überaus gewitzt wie geistreich den begeisterten Beifall des Premierenpublikums vorwegahnt.

„Choleric”, Ch. Hélène Blackburn, mit Pedro Maricato, Gustavo Carvalho, Tommaso Calcia, Charlotte Kragh

Dass Hélène Blackburn aus Kanada stammt, lässt sich nicht verheimlichen: Ihr anschließender Beitrag wirkt manchmal so, als hätte ihr Landsmann Édouard Lock bei „Choleric“ seine Hand im Spiel gehabt. Immer wieder rammt Elisabeth Vicenti ihre Spitzenschuhe in den Boden, als wollte sie mit aller Kraft ihren Platz behaupten. Und auch die anderen Tänzer und Tänzerinnen agieren so wutentbrannt und bebend bis in die Fuß- und Fingerspitzen, wie man das aus vielen Lock-Kreationen her kennt. Das Eigene läuft da leicht Gefahr, verloren zu gehen, aber vielleicht wird es ja sichtbar, wenn die Leiterin der Compagnie Cas Public kommende Spielzeit in Düsseldorf abendfüllend „Coppélia X Machina“ choreografiert.

„from time to time“, Ch. John Neumeier, mit Julio Morel, Rashaen Arts, Simone Messmer
Orazio Di Bella, Rashaen Arts, Simone Messmer, Julio Morel

Ganz bei sich ist jedenfalls John Neumeier nach der Pause, und das ist gut so. „from time zu time“ heißt das Stück des Hamburger Ballettintendanten, und es wirkt tatsächlich so, als wäre es aus der Zeit gefallen: ein ungemein dichtes, sehr persönlich durchgeformtes Portrait eines Jungen (Julio Morel), der immer wieder voller Melancholie das Bild der eigenen Vergangenheit beschwört. Wie hinter Glas wird sie für Augenblicke sichtbar, nicht zuletzt verkörpert von Evan L’Hirondelle als seinem Alter Ego. Und während aus dem Off der erste Satz aus Schuberts Sonate in B für Klavier erklingt, wird ihm in schmerzhafter Bewegtheit bewusst, wie unwiederbringlich sie ist: die vergangene Zeit.

 

„Die vier Temperamente“, Ch. George Balanchine, mit Maria Luisa Castillo Yoshida, Daniele Bonelli
Nelson López Garlo, Charlotte Kragh

Ein mit drei Stunden Dauer langer, niemals langweiliger Abend, an dessen Ende man gerne nochmals „The Four Ts“ eines gewissen Balanchine gesehen hätte – zur Beweisführung und als krönenden Abschluss.

Hartmut Regitz