Le Corsaire, Tigran Mikayelyan, Foto Wilfried Hösl
Kritiken

Die Zukunft wartet: Interview mit Tigran Mikayelyan

Endlich frei!

Ende Juni verabschiedete sich Tigran Mikayelyan in der Rolle des Stiwa aus Christian Spucks „Anna Karenina“ vom Bayerischen Staatsballett.

DANCE FOR YOU: Als Erster Solist verlassen Sie nach 13 Jahren die Kompanie. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie an die Endgültigkeit dieser Entscheidung denken?

Tigran Mikayelyan: Gut! Meine Frau Mia [Staatsballett-Halbsolistin Mia Rudic] und ich erwarten im August unser erstes Kind. Wir sind sehr glücklich. Das Wichtigste ist Gesundheit. Hat man sie, kann man viel im Leben erreichen. München war und wird für mich meine Heimat bleiben – ich bin einfach nur raus aus der Bayerischen Staatsoper. Hier habe ich den letzten 13 Jahren zahlreiche Rollen getanzt, aber auch viele Verletzungen gehabt.

Seit Igor Zelensky Chef des Ensembles ist, hat man Sie häufig in Produktionen vermisst …

Ich mich auch! Aber es ist, wie es ist! Die Situation wäre heute vielleicht eine andere, hätte ich vergangene Spielzeit nicht zwei Verletzungen gehabt … Niemand hat mir meine Karriere weggenommen – es hat sich so ergeben. Selbst wenn ich in allerbester Topform wäre, würde ich nicht sehr viel länger als Mitglied einer großen Kompanie weitertanzen. Das Leben nach dem Ballett ist nicht weniger kurz – und seit Kindertagen habe ich jede Menge Zeit mit Tanzen verbracht. Man sollte besser früh damit beginnen, in einen neuen Lebensabschnitt zu wechseln und neue Perspektiven aufzutun – ohne die alte Beschäftigung bis zum letzten Moment mitzuziehen.

Sie gehören offenbar nicht zu denjenigen, die sich schwer von ihrer aktiven Bühnenkarriere lösen. Oder doch?

Bei vielen großen Tänzern konnte ich erleben, wie sie mehr und mehr ihre Form verloren haben. Eines meiner frühesten Vorhaben war, dass ich so keinesfalls noch auf die Bühne gehen werde. Wenn ich mich heute in Trainingskleidung im Spiegel betrachte, denke ich: okay, bis 45 könnte ich es locker schaffen. Freilich darf ich nicht vergessen, dass ich bereits 17 Wadenverletzungen hatte – immer an verschiedenen Stellen. 20 Jahre lang war ich mit vollem Einsatz und Hingabe Profi und Künstler. Trotzdem bin ich Realist geblieben. Es war ein Märchen – aber nicht so überirdisch, wie manch anderer Tänzer das vielleicht empfindet.

Wie haben Sie es geschafft, dass man Ihnen das Pausieren nie angemerkt hat?

Wenn ich nach einer Verletzung zurückgekommen bin, war ich wieder absolut fit. Es ist ja nicht so, dass man bestimmte Dinge gar nicht mehr tun kann. Man weiß jedoch nie, wann es wieder eine böse Überraschung gibt. Deshalb – und weil ich wichtige Vorstellungen der letzten Spielzeit nicht getanzt habe – fühle ich mich nicht in Höchstform. Gesundheitlich, von der Muskulatur her, fürs normale Training und im Hinblick auf meine Zukunft als Physiotherapeut geht es mir toll.

Sie befinden sich also schon auf dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt?

Ja, schon im letzten Sommer habe ich an der IFAA (Internationale Fitness Akademie) mit „Kinesthetic Optimum Recovery & Enhancement“ (K.O.R.E.) eine Ausbildung zum Therapeuten begonnen. Auf dieser Grundlage habe ich angefangen, einigen Tänzern zu helfen. Und mir selbst hilft es auch. Obwohl ich den Schnitt jetzt brauche, will ich weiterhin mit bzw. in der Nähe von Tänzern arbeiten. Zudem bin ich mit sämtlichen Rehabilitations-Methoden vertraut. Es gibt heute so viele auf dem Markt, dass man schnell den Überblick verliert. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen weiß ich, was tatsächlich hilft.

Ihr neues Berufsumfeld auf dem Gebiet der therapeutischen Kinästhesie scheint Sie zu begeistern …

So ist es! Ich empfinde dafür genau so viel Leidenschaft wie vor 30 Jahren für das Ballett. Bereits vor meiner Tänzerkarriere war das irgendwie meine Richtung: Training geben, jemanden coachen. Ich war noch in der Schule, da habe ich die älteren Jungs trainiert (lacht). Nun fügt sich alles zusammen.

Ein Job als Ballettmeister wäre nichts für Sie?

Nee! Ich möchte diese Brücke haben: ein Bindeglied sein zwischen dem Ballett und der alltäglichen Welt. Mit normalen Menschen will ich genauso arbeiten wie mit Sportlern, deren Mentalität ganz anders ist. Letztlich war ich 38 Jahre lang Teil dieser Hochleistungsszene. Jetzt möchte ich mich davon ein bisschen distanzieren – durch eine andere Beschäftigung, anderswo sein und trotzdem noch mit Tänzern arbeiten.

Wie kam es vor einigen Monaten zu Ihrer Mitwirkung bei Richard Siegals Ballet of Difference in der Münchner Muffathalle?

Aus Siegals Gruppe hatte sich jemand am Rücken verletzt. „Unitxt“ kannte ich seit der Uraufführung beim Bayerischen Staatsballett – darüber hinaus als ehemalige Kollegin Zuzana Zahradníková, deren Partner ausfiel. Da haben sie in der Kompanie beraten und entschieden, mich anzurufen – als Aushilfe. Gut möglich, dass ich in den nächsten Jahren noch weitere solcher Projekte mache. In ein paar Tagen geht es nach Italien. Mal schauen … Ich stoppe das Tanzen jedenfalls noch nicht ganz.

Heißt das, Sie trainieren weiterhin?

Ich will sehen, wie alles läuft und wie viel nebenher machbar ist, sobald ich mehr Arbeit in meinem neuen Beschäftigungsfeld habe. Lässt das Tanzen das Studium nicht zu, höre ich auf. Wenn genug Freiräume bleiben, kann ich mich für kleinere Produktionen ganz gut in Form halten. Große Solopartien wie Siegfried in „Schwanensee“ oder Abendfüller wie „Le Corsaire“ sind natürlich passé. Zu 100 Prozent ist klar, dass ich in keine andere Kompanie mehr wechseln wollen würde. Die Zeit und Lust, Mitglied in einem großen Ensemble zu sein, ist für mich nach 20 Jahren definitiv vorbei. Es geht mir darum, mich stärker auf anderes als immer nur auf Ballett zu konzentrieren.

Wenn sie zurückblicken, was war ein Höhepunkt Ihrer Münchner Zeit?

Es gab für mich einige spannende Rollen. Hier habe ich aber die Figur gefunden, die zum Top-Highlight meiner Karriere wurde: In der bayerischen Landeshauptstadt König Ludwig II. zu tanzen, war Herausforderung und zugleich Spitze meiner professionellen Laufbahn. Nicht nur aufgrund der Geschichte hinter „Illusionen – wie Schwanensee“, sondern auch wegen der Arbeit mit John Neumeier, der mich für die Münchner Premiere besetzte. So viele Dinge sind damals zusammengekommen! Die Zeit, die ich unter die Direktion von  Ivan Liška erleben konnte, war eigentlich meine beste. Deswegen hatte ich nie das Gefühl, ich müsste mich noch woanders umsehen. Die Kompanie, das Essen, das Bier, die Stadt als Ganzes und der Fußball – in München hat einfach alles gepasst!

2005 debütierten Sie als „Goldenes Idol“ in Patrice Barts „La Bayadère“ und wurden 2007 zum Ersten Solisten des Bayerischen Staatsballetts ernannt. Wie kamen Sie überhaupt nach München?

Dirk Segers und Amilcar Moret Gonzales wechselten beide von München nach Zürich. Dort war ich fünf Jahre engagiert, nachdem ich als Stipendiat der Nurejew-Stiftung 1997 aus Armenien an der Schweizerischen Ballettberufsschule aufgenommen wurde. Mit beiden Kollegen hatte ich viel über das Repertoire und die Stadt gesprochen. München war damals – und ist bis heute – die einzige Metropole in Deutschland, für die ich mich von Zürich trennen würde. Gern wäre ich auch zum ABT gegangen, dort war die Situation jedoch schwieriger, man hätte länger warten müssen. Die Entscheidung für das Bayerische Staatsballett fiel, weil man dessen breites Repertoire nirgendwo sonst fand.

Gab es je Grund zur Reue?

Ich bin der glücklichste Mensch, weil ich mich seinerzeit für München entschieden habe. Es war großartig – vom Repertoire her und auch von den Kollegen sowie dem Ballettmeisterteam. Die Arbeit mit Ivan Liška bedeutete für mich zugleich einen neuen Schritt in eine andere künstlerische Richtung – im Sinn, Künstler und nicht mehr nur Tänzer zu sein. In nur eineinhalb Jahren habe ich eine erstaunliche Verwandlung durchgemacht. Die klassischen Variationen besitzen eigentlich immer dieselbe Struktur: Du fängst mit dem Sprung an, gehst in den Mittelteil mit den Pirouetten, dann kommt eine Diagonale oder Manege im Finalpart. Technik ist da eine Sache. Aber was passiert in all diesen Schritten zwischen den Kombinationen? Hier entsteht der Charakter der jeweiligen Rolle!

Hat Heinz Spoerli, Ihr Chef in Zürich, nicht auch an der Rollencharakterisierung gearbeitet?

Spoerli hat neoklassisch choreografiert, also weniger Geschichten in den Stücken erzählt. Wir hatten zunächst nur „Giselle“ und „Nussknacker“. Erst später kamen „Peer Gynt“, „Don Quixote“ und „Schwanensee“. Seine Cello-Variationen [„In den Winden im Nichts“] handeln eher von seiner eigenen Persönlichkeit. Alle müssen zusammen sein – die 12 Männer ganz synchron – und technische Perfektion zeigen. Bei Spoerli braucht man die Disziplin, sich physisch zu konzentrieren – vielleicht etwas too much. In München herrschte ein anderes Gefühl auf der Bühne. Man sollte natürlicher sein, die Rolle erst ganz verstehen und dann in die Proben gehen. So wusste man, was man interpretiert.

Bevorzugen Sie Klassisches oder Modernes?

Eigentlich bin ich der klassische Tänzer – keine Ahnung warum. Vielleicht wegen meiner Ausbildung in Armenien. Modernes mag ich gleichfalls. In München habe ich mit allen großen Choreografen zusammengearbeitet und es genossen. Bei zeitgenössischen Stücken ist man, wie man ist. Aber ich liebe es, Geschichten zu erzählen. Einfach wunderbar, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen: Siegfried, Basilio, Albrecht … In „Romeo und Julia“ habe ich Mercutio, Tybalt und Romeo getanzt – also alle drei großen Männerpartien! Dem Publikum das Drama aus drei verschiedenen Blickwinkeln näherzubringen, ist fantastisch.

Romeo und Julia, Amista Mikayelyan, Foto von Charles Tandy

Gibt es eine Rolle, die Sie noch gereizt hätte?

Ich habe es nicht geschafft, Armand und Onegin zu verkörpern. Dafür konnte ich in anderen Stücken sogar mehrere Partien übernehmen.

Wie steht es mit Spartacus? Hat es Sie nicht geärgert, dass Sie Ihre Deutung dieser Partie nicht mehr zeigen konnten?

Spartacus habe ich schon 2013 in Armenien getanzt. Natürlich war es schmerzhaft, damit nicht auch auf der Bühne des Münchner Nationaltheaters aufzutreten. Man muss allerdings die Gründe und Umstände verstehen: Neue Solisten und junge Tänzer kamen zur Kompanie, und ich konnte verletzungsbedingt nicht in meinem „Flame de Paris“-Pas de deux und auch nicht als Weißes Kaninchen in der Premiere von Wheeldons „Alice im Wunderland“ auftreten. Weiter an dieser Geschichte hängen zu bleiben, davon schmerzhafte Nachwirkungen im eigenen Kopf zurückzubehalten, wäre kontraproduktiv. Ballett im wirklichen Leben entspricht nicht der Märchenwelt, die das Publikum oft sieht. Und egal wo, es gibt immer Probleme – bei jedem Tänzer und mit jedem Direktor.

Was nehmen Sie in die Zukunft mit?

Alle positiven Erinnerungen. Stress hat mich nie gestört, aber dieser unglaubliche Zeitaufwand, den einem das Tanzen abverlangt, wurde mir zu viel. Die Dauer, die man als Tänzer im Ballettsaal und Theater verbringt, ist über die Jahre hinweg einfach enorm. Es gibt Kollegen, die spüren das nicht und haben noch Spaß dabei. Ich persönlich habe genug von stundenlanger Warterei vor großen Premieren, wenn bei Proben die Reihenfolge geändert wird und man sich ständig warm halten muss. Ich habe 30 Jahre lang physisch so intensiv an mir gearbeitet, dass ich keine kleine Labormaus mehr sein möchte. Als Junge habe ich in Armenien einige Monate gleichzeitig Boxen und Ballett gemacht. Jetzt stehe ich mehr auf Fußball und kann nun endlich mitspielen. Und vielleicht auch snowboarden. Seit 21 Jahren lebe ich in der Nähe der Alpen – da wird es Zeit, mit dem Wintersport anzufangen.

Das klingt, als laute Ihr neues Motto „Endlich frei!“ …

Genau das ist mein momentanes Gefühl. Ich möchte wie jeder normale Mensch das Wochenende für mich haben, so dass man sich schon Monate im Voraus etwas vornehmen und arrangieren kann. Als Mitglied einer Kompanie gibt es diese Möglichkeit nicht. Es kann passieren, dass man zwar nicht in der Vorstellung eingesetzt ist, sich aber jemand verletzten könnte und man einspringen muss.

Das erste Kind wird ein Mädchen. Soll sie später tanzen oder lieber nicht?

Eigentlich möchte ich nicht, dass sie Ballett macht. Außer sie will es unbedingt, dann wäre ich der beste Helfer, den sie sich wünschen kann. Wenn sie lieber ein Instrument spielen oder singen möchte, ist das auch in Ordnung. Sie darf tun, was ihr Freude bereitet. Die Hauptsache ist, dass man sein eigenes Interesse herausfindet – und dann genau in der Richtung weitergeht.

Interview: Vesna Mlakar


Dance for You Magazine interviewte Tigran Mikayelian auch 2015. Cover der Ausgabe 1/2015 (Januar).
Lesen Sie das Interview hier 

Quelle Bayerisches Staatsballett