Der diesjährige Noverre-Abend beim Stuttgarter Ballett .
Vor zwei Jahren war er pandemiebedingt gestrichen, im letzten Jahr gab es den Noverre-Abend nur online, und auch nun fielen einige Stücke Corona zum Opfer – fünf blieben übrig, aber die „Jungen Choreografen“ wurden endlich wieder live beklatscht im Stuttgarter Schauspielhaus. Bekanntlich hat das Stuttgarter Ballett mit diesen Nachwuchs-Abenden die weltweit höchste Trefferquote und rekrutiert seit Jahren seine Hauschoreografen von hier. Wie immer gab es Interessantes, Schräges, Vergessens- und Erinnernswertes.
Auf ein Zitat aus Thomas Manns „Zauberberg“ bezieht sich Halbsolist Timoor Afshar in „Zeitorgan“ – wie die Wagnerschen Nornen hängen sechs Tänzer an einem langen roten Seil und formen eine große Zeitschleife auf dem Boden draus. Ist die Frau im weißen Kleid vielleicht Madame Chauchat, sind die Männer in dunklen Mänteln ebenfalls Personen aus dem Roman? Aber wer trägt Arbeitsoveralls im „Zauberberg“? Ohne erkennbaren Zusammenhang reiht Afshar einzelne Solos aneinander, bleibt auch choreografisch in einer wenig dynamischen Schwebe.
Alle Fotos: © Stuttgarter Ballett
In „Better late than never“ erzählt Adrian Oldenburger zur „Schönen blauen Donau“ von Johann Strauß eine harmlose Liebesgeschichte unter Büroangestellten. Der höchst sprungstarke Corps-de-ballet-Tänzer hatte noch im Dezember ein tolles Debüt als Carabosse im „Dornröschen“ hingelegt; hier zeigt er uns, wie sich ein Tänzer die Bürowelt vorstellt: offensichtlich genauso klischeehaft wie Beamte die Arbeit eines Balletttänzers. In der Reihe virtuoser Nichtigkeiten stellten viele Eleven, die im Herbst von der Cranko-Schule neu in die Kompanie gekommen sind, ihre Technik und ihren Humor unter Beweis. Wobei man weiß, dass sie weit mehr können.
Auch Multitalent Alessandro Giaquinto, Tänzer, Choreograf und Schriftsteller, ist ein Absolvent der hauseigenen Akademie, er war den Noverre-Abenden eigentlich entwachsen und arbeitet schon länger „im Auftrag“. Hier aber präsentiert er dem heimischen Publikum das schöne Duo, das er für die Japan-Tournee der Kompanie im März choreografiert hatte: „Yasuragi no chi“ heißt „ein sicherer Zufluchtsort“ und zeigt die stützende, tröstliche Beziehung zwischen zwei Brüdern oder vielleicht auch zwei Liebenden – ein in sich ruhendes, mit sicherer Hand und weitem Vokabular choreografiertes Werk voll schöner Bildideen, sicher eines der besten des jungen Choreografen. Giaquinto tanzte gemeinsam mit Henrik Erikson, noch so ein Star von morgen.
Sasha Riva und Simone Repele arbeiten in der Schweiz, als Gäste brachten sie „La jeune fille et les morts“, also „Das junge Mädchen und die Toten“, eine feinsinnige Abwandlung von „Der Tod und das Mädchen“. Zum Variationensatz aus Franz Schuberts gleichnamigem Streichquartett zogen die beiden choreografierenden Tänzer als dunkle Gestalten die zarte Yumi Aizawa, Gast vom Genfer Ballett, von der Unschuld auf die dunkle Seite. Vor einem riesigen Höllentor aus Mädchenzöpfen entwickelte die sehr musikalische Choreografie mit ihren vielen gespiegelten Bildern einen dunklen, fatalistischen Sog, irgendwann blies ein Sturm sogar Wolken über die Bühne. Bis hin zum faszinierenden Schlussbild mit der nach vorne gehenden und doch rückwärts gezogenen Aizawa war deutlich war der Einfluss aus John Neumeiers Hamburg Ballett zu erkennen, etwa im Rückgriff auf die Ballettgeschichte mit dem Häubchen der Mädchenfigur. Und andererseits das geheimnisvolle Dunkel eines Jeroen Verbruggen, der in Genf so viel kreiert hat, in beiden Kompanien waren die Choreografen beschäftigt.
Der Italiener Martino Semenzato tanzt seit vier Jahren in Stuttgart, sein allererstes Stück „Notes for Peace“ entfernt sich mit Bewegungserfindungen wie insistentem Wippen, widerborstigen Folkore-Zitaten oder originellen Brustkorb-Schubsern eines Herrenduos weit von den üblichen Erstlingsversuchen – vor allem aber mit einem tiefen Jazz-Feeling, das fast an William Forsythes „Love Songs“ erinnert. Ein eigenwilliger Stil mit sehr vielen neuen Ideen für ein Erstlingswerk, wir freuen uns auf den nächsten Versuch!
Angela Reinhardt
Der Noverre-Abend ist bis einschließlich Freitag, 29. April auf der Webseite des Stuttgarter Balletts als Videoaufzeichnung zu sehen: www.stuttgarter-ballett.de