Wieder erreicht und erschüttert uns eine traurige Nachricht…ImPulsTanz-Mitbegründer und Tanzikone Ismael Ivo ist am Donnerstag, den 8. April 2021 im Alter von 66 Jahren in São Paulo an einer Covid-19-Erkrankung gestorben.
Nachruf unseres Redakteurs Volkmar Draeger
Expressiver Athlet: Ismael Ivo
Die Suche nach anderen Perspektiven auf den Tanz sei sein Mittelpunkt, erklärte mir 2001 in einem Gespräch Ismael Ivo: „Der Körper ist mein Haus, doch nie sind alle Türen schon geöffnet.“ Der das sagte, war damals im Begriff, eine weitere Tür für sich aufzutun, als er Jean Genets Hassexzess „Die Zofen“ in Yoshi Oidas Regie gemeinsam mit dem afrikanischen Tänzerphilosophen Koffi Kôkô als Duett zweier schwarzer Ausnahmetänzer auf die Bühne brachte. Ein Star von exzeptioneller Ausdruckskraft war er zu dieser Zeit längst selbst. Nach Studien in Sozialwissenschaft, Psychologie, Philosophie, schließlich Tanz und Schauspiel in seiner Heimatstadt São Paulo folgte er 1983 einer Einladung von Alvin Ailey nach New York und erweiterte sein Spektrum durch die Zusammenarbeit mit dem japanischen Butoh-Aktivisten Ushio Amagatsu.
Als Ivo, 1955 geboren, 1985 nach Europa kam, begann eine beispiellose Karriere ohne thematische Grenzen. Was ihn bewegte, Apartheid oder Gewalt, regte ihn zur künstlerischen Auseinandersetzung an, auch provokant nackt. Mit Johann Kresnik entstanden „Bacon“ und, demonstrativ mit einer männlichen Desdemona, „Othello“ als im Prinzip solistische Kraftakte eines entfesselten Darstellers; mit George Tabori folgte „Der nackte Michelangelo“. Stücke schuf er nach Borges, García Márquez, Heiner Müller, über Mapplethorpe und Artaud. Ab 1996 leitete Ivo das Tanztheater in Weimar, brachte „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ nach Fassbinder heraus, 1999 „Mephisto“, mit Ivo im Titelpart, als Finale dann „Babel 2000“ um Entfremdung sowie „Lüge Nummer 2“ nach Tennessee Williams.
Unstet, schöpferisch hochaktiv agierte er zwischen den Welten. In Berlin, getragen von einer großen Fangemeinde, war er mit Marcia Haydée „Tristan und Isolde“, tanzte in einer Mozart-Oper den Apoll; in Stuttgart leitete er eine Company am Theaterhaus; in Wien begründete er das ImpulsTanz Festival mit und führte es zu europaweiter Resonanz. Bis 2012 war er, reich dekoriert, für den Tanz der Biennale in Venedig verantwortlich, von 2017 bis 2020 Direktor des Balé da Cidade de São Paulo. Zwei Schlaganfälle letztes Jahr hatte er gut überstanden, Covid-19 riss ihn am 8. April mit 66 Jahren aus einem Leben, das noch voller Pläne steckte. Der internationale Tanz ist um einen streitbaren, einen singulären Künstler ärmer.
„Ismael Ivo studierte Tanz und Schauspiel in São Paulo. 1983 traf er auf Alvin Ailey, der ihn nach New York einlud, wo er seine Arbeit als Choreograf und Tänzer fortsetzte. Seine künstlerische Ausdruckskraft entwickelte er unter anderem in Zusammenarbeit mit dem wegweisenden japanischen Butoh-Tänzer Ushio Amagatsu weiter. Ismael Ivos unverwechselbarer und kraftvoller Stil prägte in Folge nicht zuletzt die Ästhetik des Pioniers des deutschen Tanztheaters, Johann Kresnik. Des Weiteren arbeitete er auch mit Heiner Müller, George Tabori, Marcia Haydée und Marina Abramović. Mit über fünfzig eigenen abendfüllenden Stücken wurde Ismael Ivo durch Welttourneen schnell zu einem der berühmtesten Protagonisten des Tanztheaters. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. für Die Zofen mit Yoshi Oida und Koffi Kôkô als „Outstanding Performance of the Year“ in London, die Medaille von São Paulo, das Ehrenkreuz für Verdienste um die brasilianische Kultur, das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien sowie das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.
Neben seinem umfangreichen künstlerischen Schaffen gründete er 1984 gemeinsam mit Karl Regensburger die Internationalen Tanzwochen Wien, seit 1988 ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival, wo er bis zuletzt als künstlerischer Berater tätig war. Daneben prägte er die internationale institutionelle Landschaft für den Tanz maßgeblich: Von 1997 bis 2000 war er Chefchoreograf am Deutschen Nationaltheater Weimar. Von 2005 bis 2012 leitete er die Sparte Tanz der Biennale di Venezia und das International Festival of Contemporary Dance in Venedig. Dort rief er den Goldenen Löwen der Biennale für Tanz ins Leben, den er Pina Bausch, Jiří Kylián, Carolyn Carlson, William Forsythe und Sylvie Guillem überreichen durfte. Die Entwicklung und Stärkung professioneller Ausbildungsprogramme für Tänzer*innen war ihm ein besonderes Anliegen. In diesem Sinne gründete er 2009 das Contemporary Dance Research Center Arsenale della Danza in Venedig, das 2011 im Rahmen der Biennale institutionalisiert wurde. Von 2013 bis 2017 führte er dieses Projekt in Wien und São Paulo unter dem Namen Biblioteca do Corpo fort. Der charismatische und leidenschaftliche Lehrer war unter anderem 2013 Gastprofessor am Max-Reinhardt-Seminar an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Von 2017 bis 2020 war er Direktor des Balé da Cidade de São Paulo und leitete gemeinsam mit Dirigent Roberto Minczuk das Theatro Municipal de São Paulo. Im Herbst 2020 wurde er künstlerischer Berater für den brasilianischen Fernsehsender TV Cultura.
Bei ImPulsTanz wirkte Ismael zuletzt im Jahr 2019 – mit seinen Workshops, mit denen er über Jahrzehnte Generationen von Hobby- und Profitänzer*innen begeisterte, und seiner Compagnie des Balé da Cidade de São Paulo mit dem umjubelten Stück Um Jeito de Corpo (choreografiert von Morena Nascimento) im Burgtheater. Wir hätten uns gewünscht, ihn auch in diesem Sommer wieder in Wien willkommen zu heißen, Workshops und Symposien waren bereits vereinbart.
Wir möchten unsere größte Bewunderung für sein Lebenswerk und seine Stärke ausdrücken und uns für seine künstlerischen Beiträge bei ImPulsTanz und darüber hinaus für seine unerschütterliche Leidenschaft dem Festival und dem Tanz gegenüber bedanken. Es war uns eine Ehre, Ismael an unserer Seite zu wissen – welch ein wunderbarer und großzügiger Mensch!
Karl Regensburger & das ImPulsTanz-Team“
Pressetext ImPuls Tanz