Von Viola Gräfenstein
Der Kuss ist in der Kunst nichts Neues. Schon Gustav Klimt, Edvard Munch oder Auguste Rodin haben ihn künstlerisch in ihren Bildern und Skulpturen verarbeitet. Jetzt hat der Kuss im Ballettstück „A kiss to the world“ von Dominique Dumais in der Deutschen Oper am Rhein zu einer neuen Ausdrucksform gefunden.
Die Gastchoreographin Dominique Dumais, zeigt in ihrer Uraufführung, wie facettenreich und aktuell das Thema auch heute noch ist. „A kiss to the world“ ist ein zweistündiges Ballettstück in zwei Akten, die gegensätzlicher nicht hätten sein können. Im ersten Teil begegnen sich Menschen in grauen Kostümen vor einer Bürohauskulisse. Im zweiten Akt wird es lebendiger und menschlicher, wenn sich die Farben von Grau zu Rot und die Kulisse von Beton in Natur verwandelt.
Dominique Dumais greift im ersten Akt die Sehnsucht der in grauen Anzügen bekleideten Menschen auf, die aus ihrer starren Routine ausbrechen wollen, um sich miteinander zu verbinden, zu fühlen, zu atmen und zu lieben. Die Sehnsucht passt nicht ins Konzept der angepassten, perfekt funktionierenden Gruppe, die kaum Kontakt zueinander hat. Die Tanzenden wirken in sich gekehrt und starr. Jede Form von Individualismus wird misstrauisch beäugt. Doch immer wieder tanzt jemand aus der Reihe, bricht aus der grauen Konformität und den vorgegebenen Strukturen aus. Die Tanzenden schreien, schneiden Grimassen, halten sich selbst kaum aus. Es ist wie ein Schrei nach Liebe, nach Akzeptanz und Verbindung, aber auch der Wunsch nach Individualität in einer scheinbar überangepassten Gesellschaft.
Fotos: © Ingo Schäfer
Unter den Anzugjacken leuchtet ein roter Stoff, der an pochende, kleine Herzen erinnert. Vorsichtig schauen die Tanzenden immer wieder unter ihre schützenden Jacken. Berührungen, Intimität scheinen verboten und doch passiert es immer wieder. Der Kuss ist wie eine Mutprobe, der sich immer mehr Tanzende stellen. Die Menschen sind auf der Suche, torkeln durchs Leben. Paare verschmelzen für wenige Augenblicke miteinander, vergessen ihre Umgebung, um sich schließlich doch wieder in die festgelegten, vorgegebenen Strukturen zu begeben. Der Kuss wirkt wie ein Symbol für Intimität und Menschlichkeit. Dominique Dumais lässt den Kuss von den 24 Tänzerinnen und Tänzern des Ballett am Rhein in verschiedenen Sprachen übersetzen. Sie spielt mit philosophischen, kulturellen, psychologischen und geometrischen Ansätzen. Die Bewegungen sind starr, hektisch, stampfend und dann wieder wellenartig fließend.
Als sich immer mehr Tanzende aus der grauen Masse mutig herauslösen, sich suchend durch weiße, herunterhängende Tücher umherirrend auf den Weg machen, öffnet sich die tanzende Gemeinschaft für Gefühle, Verletzlichkeit, Streit und Intimität. Gruppenformationen wechseln sich ab mit beeindruckenden Soli, Pas de Deux und Pas de Trois. Der Schutzpanzer der Gruppe löst sich für wenige Momente auf, die Tanzenden wirbeln und stampfen über die Bühne, bis alle am Ende des ersten Aktes wieder zu einer Einheit zusammenfinden. Es ist wie eine Aufforderung zu leben, zu lieben und sich anzunähern. Der Kuss wird zum Symbol des höchsten Glücks und, wie im wahren Leben, beim Abschied offenbar zum größten Schmerz. Edvin Somai und Doris Becker sowie Daniele Bonelli und Futaba Ishizaki zeigen mit ihren Pas de Deux die Spannung und gegenseitige Anziehung, die zwischen Menschen entstehen kann. Die Kraft des wellenartigen Zusammenkommens und Auseinandergehens erinnert an das Spiel von Wellen, die auf einem durchsichtigen Vorhang am Ende des Stückes als Projektion erscheinen.
Die zeitgenössische Musik von Aleksandra Vrebalov hat unerwartete Klänge und passt zu dem Auf und Ab der vertanzten Gefühlswelt. Dominique Dumais musikalische Zusammenstellung kennt keine Tabus. Sie mischt den wunderbaren Operngesang von Bogdana Bevziuk mit Pop und klassischen Stücken von Wolfgang Amadeus Mozart, Georg Friedrich Händel, Joseph Haydn und Ludwig van Beethovens zu einem organischen Klangteppich, den die Düsseldorfer Symphoniker beeindruckend umsetzen. Zu den wechselhaften Klängen und Choreographien setzt Bonnie Beecher ein atmosphärisches, fast magisches, Licht. Dass Dominique Dumais das Stück zusammen mit ihren Tanzenden als Gemeinschaftsprojekt erarbeitete, merkt man dem Ballett durchgehend an. Jeder Tänzer und jede Tänzerin trägt mit seiner individuellen Ausdruckskraft engagiert zur Lebendigkeit des Stückes bei.
Der zweite Akt des Balletts ist wie eine Verwandlung. Der Beton wird zu organischer Natur. Bäume prägen das Bühnenbild. Blätter rieseln auf die Tanzenden herab. Gleich zu Anfang pulsiert Blut durch Adern, die auf den Vorhang projiziert werden. Die roten Kleider, die alle Tanzenden tragen, erinnern an ein Symbol für die Liebe, das Leben und die Sehnsucht nach Akzeptanz und Verbindung. Einzelne Tänzer lösen sich aus der Gruppe heraus und tanzen beeindruckende und kraftvolle Soli. Danach taumeln Paare wie verliebte Blätter über die Bühne, berühren sich und halten sich einander sehnsüchtig fest. Die Tanzenden, die oftmals Dreiergruppen bilden, wollen leben und lieben und tun das auch. Kauan Soares, Miguel Martinez und Doris Becker sowie Edvin Somai, Wun Sze Chan und Juaquin Angelucci zeigen die spannungsvollen Muster von Beziehungen in kraftvollen Pas de Trois. Alles fließt, das Blut, das Herz und die Liebe und so sollte es sein. Der Kuss wird zu einer wahren “Ode an die Freude” und zum Zeichen von Menschlichkeit und Hoffnung für eine ganze Welt. Das Ballett „A kiss to the world“ von Dominique Dumais, getanzt vom Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg, erhielt, absolut verdient, langanhaltenden, stürmischen Applaus.