Die sieben Todsünden © Jürgen Steinfeld
Kritiken

125 Jahre Kurt Weill: Tanztheater Wuppertal tanzt „Die sieben Todsünden“

125 Jahre Kurt Weill: Tanztheater Wuppertal interpretiert ‚Die sieben Todsünden‘ neu

Mit einem gefeierten Doppelabend ehrt das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und Kurt Weill gleichermaßen – zwischen expressivem Tanz, Gesang und spartenübergreifender Bühnenkunst.

Von Viola Gräfenstein

In Schwarz gekleidete Tänzerinnen und Tänzer betreten die Bühne und bilden eine Reihe. Vorne links sitzt ein singendes Herrenquartett an einem runden Tisch. Im Hintergrund stapeln sich Reisekoffer. Die Bühne ist dunkel. Plötzlich betritt eine Frau in einem leichten Blumenkleid die Bühne. Sie wirft ihre Arme nach oben, schleudert ihre offenen, langen Haare zu allen Seiten, dreht sich, freut sich. Lebenslust pur. Dazu betritt eine zweite Frau die Bühne, und alles ändert sich.

Ensemble © Paul Andermann

In Bauschs Interpretation von „Die sieben Todsünden“ begegnen uns zwei Schwestern, die beide Anna heißen. Die Tänzerin Stephanie Troyak verkörpert Anna II – leidenschaftlich, impulsiv, zerrissen. Ute Lemper, als Anna I, ist der reflektierende, strategisch denkende Teil – singend, planend, kontrollierend. Gemeinsam reisen sie durch sieben Städte der USA, sieben Stationen eines moralischen Systems, das vorgibt Tugend zu belohnen, während es in Wahrheit die Perversionen einer kapitalistischen Verwertungslogik abbildet, in der es um Macht und Geld geht, und der Mensch als Mittel zum Zweck in den Abgrund getrieben wird. Ein passendes Thema, das gerade heute so aktuell wie kein anderes ist.

Anna I, wird von Ute Lemper überzeugend eindringlich gespielt und gesungen. Die in New York lebende, gebürtige Münsteranerin hat mit den Brecht/Kurt Weill-Liedern Starruhm und viele Auszeichnungen im In- und Ausland erlangt. In schwarzem, engem Kleid und mit zurückgekämmtem, blondem Haarknoten setzt sie gnadenlos und manipulativ kontrollierend durch, was die Familie von Anna II verlangt: Um jeden Preis Geld für ein Haus zu machen. Die beiden Frauen, die den gleichen Vornamen Anna tragen, haben allerdings nur ihren Namen gemeinsam.

Die Schwestern wollen von Louisiana aus sieben Jahre lang in allen großen Städten Geld verdienen, um für ihre Familie ein kleines Haus am Mississippi zu bauen. Die Familie, ausdrucksstark und überzeugend gespielt und gesungen von Mark Bowman-Hester, Sebastian Campione, Sergio Augusto und Simon Stricker, wünscht sich, dass Anna nicht faul sein möge und ohne zu sündigen reich werde, um ihr ein Haus zu bauen. Doch dann beginnt ihre Reise mit sieben Stationen und alle sieben Sünden zeigen ihr hässliches Gesicht.

Anna, die, mit vielen schönen Kleidern ausgestattet, eine Stelle als Tänzerin in Memphis findet, erfährt dort Ablehnung. Doch anpassen möchte sie sich nicht. Ihre Schwester mahnt sie, ihren Stolz abzulegen und sich verlockendere Kleidung anzuziehen. Stück für Stück entkleidet sie Anna II, zieht ihr aufreizende Kleidung über, raubt ihr, indem sie sie in die Prostitution treibt, Wesen und Seele. Anna zeigt sich rebellisch und möchte sich den Vorgaben nicht unterwerfen. In ihrem ausdrucksvollen Tanz zeigt sich ihre panische Verzweiflung. Doch Anna I überzeugt sie, weiter nach Los Angeles zu gehen.

Hier erzürnt sich Anna II über die Rohheit der Menschen. In Philadelphia verdient sie als Solotänzerin endlich mehr Geld, und das Haus ihrer Familie kann gebaut werden. Für Anna wird alles schwerer. Sie wird regelmäßig gemessen, denn zunehmen darf sie nicht. Das Essen wird ihr verboten: Völlerei. Für Anna geht es weiter nach Boston. Statt sich zu verkaufen, verliebt sich Anna II in Fernando, möchte sich ihm voller Lust hingeben, doch auch ihre Schwester trifft sich mit ihm. Anna II rast vor Eifersucht und tanzt tobend über die Bühne.

Ensemble © Evangelos Rodoulis

Die Schwestern ziehen weiter nach Baltimore. Die Familie rät ihr davon ab, gierig zu sein. San Francisco ist die letzte Station der Reise. Anna II beneidet alle, die so denken und fühlen dürfen, wie sie wollen. Ihre Schwester ermahnt sie, auf Freuden zu verzichten. Beide kehren nach sieben Jahren nach Louisiana zurück, wo mittlerweile das kleine Familienhaus steht. Annas inneres Fundament hingegen, ihre Seele sowie ihr Körper, sind zerstört.

Ute Lemper als Anna I bildet eine feste Säule, um die sich an diesem Abend alles herum zu drehen scheint. Anna II, wunderbar überzeugend verkörpert von Stephanie Troyak, zeigt die ganze Klaviatur ihres tänzerischen Ausdrucks und Könnens. Mit Schuhen in der Hand, lang ausgestreckten Armen, tanzt sie enthemmt, rebellisch und lustvoll, doch das Familiensystem, die Gesellschaft, die sie ausbeuten, richten sie am Ende zugrunde.

Pina Bausch seziert jede Todsünde nicht als individuelle Schwäche, sondern als Spiegel einer Gesellschaft. Was als „Sünde“ gilt, ist in Wahrheit Teil des Menschseins. Die Familie – rein männlich besetzt – spricht mit autoritärer Stimme und dirigiert Annas Lebensweg. Annas Tanz wird dabei zur Landkarte des inneren Widerstands.

Bauschs typische Sprache aus Repetition, Isolation und Verfremdung wirkt wie ein Vokabular des gesellschaftlichen Kommentars: Arme schlagen ins Leere, Bewegungen setzen an und brechen ab, expressive Gestik und Mimik, plötzliche Wechsel mit Gesten voller Humor, Verzweiflung und Beklemmung. Bewegungen und Pausen bekommen eine fast schmerzhafte Intensität.

Musikalisch bleibt das Werk durch die scharfsinnige Verbindung von Brechts Texten und Weills ironisch-melodischer Musik, hervorragend vom Sinfonieorchester Wuppertal unter der Leitung von Jan Michael Horstmann gespielt, provokant und unterstreicht diesen Zynismus: scharf, rhythmisch, ironisch – mit Lempers Gesang als glasklare Linie durch das innere und äußere Chaos.

Pina Bausch experimentierte mit verschiedenen Genres. Sie verbindet in diesem Tanzabend, einstudiert von Josephine Ann Endicott und Julie Shanahan, Gesang, Tanz und Ausdrucksmittel des Tanztheaters und lässt spartenübergreifend auch ihre Tänzer und Tänzerinnen singen. Das mehr als 25-köpfige, internationale Ensemble mit weiteren Gästen tanzt und singt klar und beeindruckend die „Die Ballade von der Unzulänglichkeit des Strebens“.

Emily Castelli © Zerrin Aydin-Herwegh

Im zweiten Teil des Brecht/Weill-Abends „Fürchtet euch nicht“ hat Pina Bausch bekannte Songs aus „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, „Happy End“, „der Dreigroschenoper“ und dem „Berliner Requiem“ zusammengestellt. Entstanden ist eine von Bertolt Brecht geprägte Mischung gesellschaftskritischer Untertöne zwischen Verzweiflung und Zuversicht der damals späten Zwanziger und frühen 1930iger Jahre, die durch die Freude an Tanz, Spiel und Gesang hoffnungsvoll durchbrochen wird.

Im zweiten Teil konkurrieren humorvolle mit befremdlichen Szenen, die bisweilen stark provozieren. Es geht um menschliche Schwächen und gesellschaftliche Konventionen, die das Leben der Menschen bestimmen. Die Todsünden wie zum Beispiel Neid, Lust, Eitelkeit und Habgier zeigen sich auch hier in verschiedenen Szenen. Eine junge Frau zeigt sich schüchtern in Spiegeln, die hin- und hergeschoben werden, Frauen, die als marionettenhafte Puppen funktionieren, aber auch das Alter wird als schwere Last thematisiert. Ute Lemper zieht als dunkelhaariger Vamp mühsam zahlreiche schwarze Herrenschuhe hinter sich her. Dann wiederum befindet sie sich mit Fuchsstola unter mehreren sich auf der Erde räkelnden, leicht bekleideten Damen wieder. Vergleichende und argwöhnische Blicke kreuzen sich, bis plötzlich ein Streit zwischen den keifenden, Fuchspelz tragenden Damen losbricht. Das Publikum hat offensichtlich großen Spaß daran.

Im zweiten Teil „Fürchtet euch nicht“ präsentiert sich außerdem die australische in New York lebende Sängerin, Performerin und Kabarettistin Melissa Madden Gray. Voller Selbstironie bemalt sie sekundenlang ihre roten Lippen und beklagt ihr Leben. Die Sängerin schafft es, mit ihrer wundervollen Stimme und ihrer überwältigen, sinnlichen Präsenz das Publikum sofort für sich einzunehmen. Sie lacht herzerfrischend über sich selbst, zeigt sich offenherzig und freizügig im Sündenpfuhl der Großstadt.

Ute Lemper, Emily Castelli © Ursula Kaufmann

Der großartige Schauspieler Steffen Laube, der in über 50 Fernsehproduktionen von Tatort bis Kika mitwirkte, hat es hingegen schwerer, Sympathien zu gewinnen. Als grauhaariger Mann jagt er „Fürchte dich nicht!“ raunend der jungen Tänzerin Emily Castelli hinterher. Es endet in einer gewaltvollen Szene, die in Zeiten von Gewalt-gegen-Frauen-Debatten für den ein oder anderen möglicherweise etwas verstörend wirken könnte.

Die Schauspielerin Erika Skrotzki, die in zahlreichen Fernsehproduktionen wie „Soko Leipzig“ und „Der Landarzt“ bekannt ist und mit Chanson-Soloprogrammen auftritt, spielt und singt sich als Gast im zweiten Teil berührend in die Herzen des Publikums.

Pina Bauschs zweiteiliger Tanzabend „Die sieben Sünden“ und „Fürchtet euch nicht!“ ist mit seinen düsteren Szenen über menschliche Abgründe und Schwächen sowie mit ihrer ganz offensichtlichen, noch heutige gültigen, Gesellschaftskritik am Kapitalismus und der Ausbeutung von Frauen insgesamt kein leichter Tanzabend, aber die Choreografin zeigt, wie gesellschaftliche und moralische Konzepte durch Tanz, gepaart mit den Sparten Schauspiel und Gesang, künstlerisch eindringlich und zugleich poetisch unterhaltsam sichtbar gemacht werden können. Das Publikum bedankte sich beim hervorragenden Tanzensemble, den Gästen und dem Orchester zurecht mit stürmischem Beifall.