"Sospesi", Ch.: Vittoria Girelli, Tänzer: Elisa Ghisalberti, Edoardo Sartori, Matteo Miccini, Mackenzie Brown © Roman Novitzky
Kritiken

Zwischen Diesseits und Jenseits

Ein neuer „Creations“-Abend beim Stuttgarter Ballett

von Angela Reinhardt

 

Seit das Ballett entdeckt hat, dass es Frauen nicht nur als Starballerinen auf der Bühne sehen will, fördern die Tanzdirektoren pflichtschuldigst weibliche Kreative – dabei gab es schon zuvor viel mehr Choreografinnen und Ballettdirektorinnen als etwa Dirigentinnen, über die sich die männerdominierten Orchestermusiker leider kaum halb so viele Gedanken machen wie die deutlich jüngeren Tanzkünstler. Rein feminin erstellte Ballettabende sind angesagt, deshalb lud der Stuttgarter Ballettintendant Tamas Detrich für seine „Creations“-Reihe mit Uraufführungen zwei Gästinnen aus England und Norwegen ins Stuttgarter Schauspielhaus. Gemeinsam mit der bereits als Choreografin bekannten Stuttgarter Halbsolistin Vittoria Girelli verantworten sie einen eher rätselhaften Abend, der neben großem Applaus für die durchweg starken Stuttgarter Tänzer auch Stirnrunzeln zeitigte.

Alle Fotos:© Roman Novitzky

Matteo Miccini, Mackenzie Brown, Giulia Frosi, Edoardo Sartori in“Sospesi“, Ch. Vittoria Girelli

Girelli bleibt bei ihrer kühlen, futuristischen Ästhetik. Der italienische Titel „Sospesi“ steht für „Losgelöste“ oder „Schwebende“ – so wie die Tänzer, die im weißen Bühnenbild von Francesca Sgariboldi ein wenig verloren zwischen Himmel und Erde hängen, an den Rändern des gebogenen Raumes. Um die Dualität im Menschen geht es der jungen Choreografin, die sich zu einer Collage aus Nachtstücken von Edward Elgar bis Frédéric Chopin vom Maler Hieronymus Bosch und den „Vögeln“ des Aristophanes inspiriert zeigt, so steht es jedenfalls in ihrem Begleittext. Außer dass immer wieder eine unterbewusste Angst, ein unheimliches Gefühl durch diese kühle Gruppe weht, ist gerade Bosch in dieser klinisch hellen Umgebung schwer zu verorten. Choreografisch fällt Girelli viel ein, ihr nach wie vor introvertierter Tanz wird expressiver, auch wenn die an den Kopf gegelten Haare, die oft ins Nichts gerichteten Blicke ihre fabelhaften Interpreten zu weit in die Anonymität rücken. Die sieben Tänzer (Mackenzie Brown, Giulia Frosi, Elisa Ghisalberti, Matteo Miccini, Edoardo Sartori, Martino Semenzato, Anouk van der Weijde) beherrschen die Synchronität des leicht unterkühlten Stils, die immer ein wenig mechanistisch unterlegte Dynamik der Bewegungen perfekt. Dennoch ist man fast froh, wenn das nächste Werk wieder von echten Menschen handelt.

Rocio Aleman, Fabio Adorisio in „Where does the time go?“, Ch. Samantha Lynch
Christopher Kunzelmann in „Where does the time go?“,Ch. Samantha Lynch

Denn sehr viel irdischer geht es bei Samantha Lynch zu, die Australierin tanzt seit zehn Jahren beim Norwegischen Nationalballett, wo sie auch zu choreografieren begann. In „Where does the Time go?“ schrumpft eine lange Tafel, an der eine Gesellschaft von Freunden diskutiert und streitet, auf ein trauriges Tischlein mit der letzten Zurückgebliebenen zusammen. Zu vier alten Songklassikern von Ray Charles oder Nina Simone zeigt die Choreografin getanzte Gespräche, Übergriffe, Ärger, Beziehungsstress: das Leben. Ein Paar, Alessandro Giaquinto und die blutjunge, fürs Moderne geborene Ruth Schultz, sprudelt über mit der heiteren Streitbarkeit der Jugend, Christopher Kunzelmann durchleidet eine Midlife-Crisis, am Ende stellen sich Rocio Aleman und Fabio Adorisio die letzten, ernsten Lebensfragen. Lynch reiht mit ihrem reichen Vokabular kurze, aber einprägsame Charakterskizzen aneinander, ihre Frauengestalten sind durchweg selbstbewusst und wehrhaft. Insgesamt aber wirkt das erstaunlich kurze Stück ein wenig scheu, manches bleibt offen und zu wenig prägnant. Hier wie auch bei Vittoria Girelli blitzen Sharon Eyals Trippeln und Crystal Pites fluktuierende Massenbewegungen auf (Lynchs Szenario erinnert an das von Pites „The Statement“). Frauen lassen sich offensichtlich gerne von Frauen inspirieren.

Mackenzie Brown in „Averno“, Ch. Morgann Runacre-Temple

Eine Telefonzelle, eine Tankstelle und ein alter weißer Golf stehen bei Morgann Runacre-Temple im Dunkel, in einem optisch spannenden Tanztheater peppt die Britin den Mythos von Persephone und Hades mit Gesellschaftskritik und einem Hauch Samuel Beckett auf. Sollen wir oben auf der Erde endlos auf das eine Ereignis hoffen, das vielleicht nie kommt? Wie bei „Warten auf Godot“ harren Persephone und ihre vier Mütter vor einer Telefonzelle auf einen Anruf. Oder lebt es sich womöglich ohne trügerische Hoffnung ruhiger, direkt bei Hades, dem Gott der Unterwelt? Er befreit Persephone nach und nach von ihrer klammernden Familie, indem er diese von gesichtslosen schwarzen Horden in sein Auto hieven lässt, zum Abtransport in den Tod. „Averno“ heißt das Stück nach dem italienischen Ort, der als Eingang zum Hades galt, und spielt genau wie „Sospesi“ zwischen Diesseits und Jenseits, mit deutlich konkreteren, surrealen Großstadtbildern. Ausstatterin Sami Fendall hat eine „Matrix“-ähnliche, dunkle Ästhetik entworfen. Als die schwarzen Helfer, die tatsächlich wie Erdöl (so lautet ihr Rollenname) um die giftgrün gewandeten Mütter herumfließen, mit der wehrlosen Familie davonfahren, bleibt unentschieden Mackenzie Brown als Persephone zurück und überlegt, ob sie dem dunklen Verführer nachgeben soll – Matteo Miccini sollte viel öfter bedrohliche Rollen tanzen, es steht ihm. Runacre-Temple setzt große Live-Kamera-Aufnahmen ein, eine Art riesige Kasettendecke wölbt sich als Projektionsfläche über dem Geschehen, dort sieht man überlebensgroß die Gesichter der Tänzer, die auch in Großaufnahmen nie übertreiben. Die Schritte selbst mögen kaum von erfinderischer Bedeutung sein, aber die absurde Theatralik des Stücks und die düstere Konsequenz der Choreografin lassen verstehen, warum Runacre-Temple in ihrer Heimat bereits mehrfach mit Preisen dekoriert wurde.

Tamas Detrichs „Creations“-Reihe ist bei Stück Nummer 15 angekommen und ein bisschen fühlt man sich wie bei Beckett: Ob da noch was kommt? Es gab Zeiten, als man sich bei den modernen Abenden im Stuttgarter Schauspielhaus nicht abmühte, die Anleitung aus dem Programmheft irgendwie auf der Bühne nachzuvollziehen, sondern als der Tanz noch überraschte, faszinierte oder entsetzte, als er noch ohne Erklärung für sich selbst sprach. Vielleicht wäre ein Abend mit Klassikern der Moderne mal wieder gut, um an die Maßstäbe zu erinnern.