"ABỤỌ" Ch: Nnamdi Nwagwu, mit Riccardo Ferlito und Edoardo Sartori © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Kritiken

Zurück zur Klassik

Das Stuttgarter Ballett zeigt „Junge Choreografen“

 

Die Noverre-Gesellschaft gibt es nicht mehr, ihr Gründer Fritz Höver und sein Nachfolger Rainer Woihsyk sind tot, aber das Stuttgarter Ballett hält die Tradition der „Jungen Choreografen“-Abende am Leben – kein Wunder, nähren sie doch gefühlt seit über 60 Jahren die halbe europäische Tanzgeschichte. Vier Stuttgarter Tänzer und vier Gäste aus aller Welt zeigten im Schauspielhaus wieder kurze Uraufführungen, kleine bunte Versuchsballons zwischen Klassik und Tanztheater, Pathos und Witz, Gedankentiefe und Nur-mal-Ausprobieren. Ein absoluter Frischling ist keiner der Tanzschöpfer, interessante Ideen hatten sie alle.

Halbsolist Adrian Oldenburger etwa zeigte in “Je ne regrette rien” das Entstehen eines Bildes, und zwar mit echter Farbe auf den weißbekleideten Körpern seiner Tänzer – Monet in Movement sozusagen, eine spannende Idee und doch choreografisch nicht direkt überreich an Einfällen, erst recht nicht musikalisch. Auch Anne Jung, Gast aus Frankfurt, fand in “#FiveWithFive – Just a Few Moons Away“ keine originäre Handschrift für die komplizierten Beziehungen von zweieinhalb Paaren unter orangefarbenen Lampions. Schön und doch zu widerstandslos floss der Bewegungsstrom zu einer Rachmaninow-Bearbeitung dahin, zu erkennbar waren Einflüsse wie Jiří Kylián und noch stärker Christian Spuck.

Sanft und erdgebunden glitten drei Männer durch Lucyna Zwolinskas „Sweet Spot“, das meditative Stimmungsbild der polnischen Choreografin zeigt den Lebensweg als Gang durchs mysteriöse Dunkel und lebt von der Parallelität der Bewegungen. Adhonay Soares da Silva, Christian Pforr und Timoor Afshar schmiegten sich in die weiche, nachdenkliche Choreografie. Noch erdverbundener zeigte sich Maya Popova, Gast aus Jerusalem. Sie ließ in „Earth Spell“ drei Kriegerinnen mit wilden Federmasken unter einem Reifrock hervorschlüpfen, und leider auch wieder zurück. Popova tanzte selbst mit, gegen ihre tiefe Sehnsucht nach dem Boden kamen die drei eher eleganten Stuttgarterinnen nicht an. Exotik hatte wohl auch der frisch gekürte Halbsolist Martino Semenzato im Sinn, dessen „2m² of Skin” dann aber eher esoterisch daherkam. Die Inka-artigen Körperbemalungen anonymisierten die Tänzer, die schließlich zu Chiffren in einer Kreisgeometrie wurden. Zum Tanztheater entführte Timoor Afshar mit „The Monster under the Bed“: Träumt die Krankenschwester vom Mumienmonster oder das Monster von der Krankenschwester? Und warum bricht der Choreograf die surrealen Bilder mit einer höchst irdischen Kindertröte?

Fotos: © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

“JE NE REGRETTE RIEN”, Ch. Adrian Oldenburger, Tänzer: Triscylla Gallo,  Satchel Tanner
“#FIVEWITHFIVE JUST A FEW MOONS AWAY”, Ch. Anne Jung, Tänzer: Mizuki Amemiya, Henrik Erikson
“VERITAS VOS LIBERAT”, Ch. Emanuele Babici, Tänzer: Irene Yang, Riccardo Ferlito

Zwei Noverre-Debütanten würden wir gerne in die nächste Runde weiterreichen: Eine kleine, vieldeutige Miniatur steuerte Nnamdi Christopher Nwagwu aus Rotterdam bei, „Abuo“ ist das Porträt einer Freundschaft. Wie Kinder hakeln die zwei Jungs anfangs nur mit den Händen, dann entsteht zu Mambo-Rhythmen ein Spiel daraus, am Schluss sogar Zuneigung – der eine will, der andere nicht. Ein wenig erinnert die Skizze an John Crankos „Brouillards“, natürlich ist sie wesentlich moderner, aber Nwagwu kann Menschen durch Bewegung charakterisieren und zeigt, wie Liebe entsteht. Das ist schon mal sehr wertvoll, genauso die natürliche, aus der Geschichte heraus changierende Dynamik. Riccardo Ferlito und Edoardo Sartori, beide im Corps de ballet, bewiesen einmal mehr, was für nuancierte, ausdrucksstarke Interpreten die Cranko-Schule in die Kompanie schickt.

“2M² OF SKIN”, Ch. Martino Semenzato, Tänzer: Christopher Kunzelmann, Martino Semenzato 
“EARTH SPELL”, Ch. Maya Popova, Tänzer: Giulia Frosi, Aoi Sawano, Joana Senra, Maya Popova
“SWEET SPOT”, Ch. Lucyna Zwolinska, Tänzer: Timoor Afshar, Christian Pforr, Adhonay Soares da Silva

Von dort kommt auch der junge Italiener Emanuele Babici, derzeit Eleve, der bereits in seiner „Geburt der Venus“ für die Schule mit einem groß besetzten, klassisch-akademischen Werk überraschte. Für „Veritas vos liberat“ wählte er nun den letzten Satz von Dmitri Schostakowitschs fünfter Sinfonie, jenen viel zu enthusiastisch klingenden Triumphmarsch, der heimlich gegen den Stalinismus gerichtet war. Russisches Pathos fließt in die dichte, schnelle Choreografie, Babici zeigt gelynchte Helden, mutige Frauen, Sterbende und Flehende. Der junge Choreograf beherrscht sein Handwerk erstaunlich gut, schiebt Gruppen ineinander, variiert sie stafettenartig, gestaltet die Auftritte und Abgänge rasant. Hochvirtuos setzt er seine blutjungen Kollegen, fast alle erst seit Herbst in der Kompanie, in Szene. Als Solist beeindruckt wiederum Riccardo Ferlito, hier mit Drehungen und Sprüngen. Auf dem Weg zum nächsten Alexei Ratmansky oder gar Uwe Scholz fehlen Babici dringend ein paar Brüche in der Ästhetik, sowohl beim Pathos wie im klassisch-akademischen Vokabular. Und ob Stuttgart nach den Kyliáns, Forsythes und Goeckes auf einen klassischen Choreografen gewartet hat? Es bleibt spannend. Die Tänzer des Abends jedenfalls veredelten mit ihrer Hingabe jedes einzelne Stück, und das Stuttgarter Publikum spendete den Jungchoreografen wie immer reichlichen, ermutigenden Applaus.

Der Abend ist noch bis zum 29.1. kostenlos als Aufzeichnung auf der Webseite des Stuttgarter Balletts zu sehen. 

Angela Reinhardt