Edward Clugs zweite Klassiker-Modernisierung fällt in Basel recht nüchtern aus
Schwarz, weiß, rot und pink, mehr Farben gibt es nicht auf der kargen, stark stilisierten Bühne im Großen Haus in Basel. Nach seinem „Nussknacker“ in Stuttgart hat Edward Clug einen zweiten alten Klassiker adaptiert, und wieder beruht das Ballett auf einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann. Wo Clugs „Nussknacker“ wie eine Hommage an John Cranko wirkte, da scheint hier die Inspiration von Mats Eks „Giselle“ zu stammen, denn zusammen mit seinem gewohnten künstlerischen Team hat Clug den putzigen Klassiker komplett entstaubt und modernisiert. Dabei nimmt er die Handlung durchaus ernst, verändert sie aber in wesentlichen Details.
Die lange Zeit kaum gespielte „Coppélia“ zeigt die jahrhundertealte Faszination der Automatenmenschen, verniedlicht zur tanzenden Puppe eines versponnenen Erfinders, der von der frechen Dorfjugend reingelegt wird. Es folgt ein Happy End zwischen Swanilda und Franz samt großem, variationenreichem Divertissement, dem „Tanz der Stunden“. Noch vor dem „Nussknacker“ wurde die Handlung fürs Ballett von all ihrem unheimlichen oder gar tiefenpsychologischen Ballast befreit; was damals die virtuosensüchtigen Zuschauer waren, ist heute das Familienpublikum, das mit der Basler „Coppélia“ dennoch nicht recht froh werden dürfte. Arthur Saint-Léons Urfassung von 1870 nahm von Paris aus den bekannten Weg via St. Petersburg zum internationalen Klassiker; es gibt keine tradierte Urfassung, aber viele Neuinszenierungen berufen sich auf Marius Petipas russische Version. Wie beim „Nussknacker“ gab es natürlich auch hier Versuche, zur düsteren Vorlage zurückzukehren, Christian Spuck etwa hatte 2006 aus Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ ein neues, eigenständiges Ballett gemacht. In jüngster Zeit aber steht durch das Thema Künstliche Intelligenz tatsächlich der Titel „Coppélia“ wieder häufiger auf den Spielplänen, wenn auch, wie in Düsseldorf, von Leo Délibes’ melodienseliger Partitur kaum etwas übrig ist. Auch Jean-Christophe Maillot lässt in Monte-Carlo eine Androidenfrau über die Bühne staksen, denn 200 Jahre nach Erscheinen der Erzählung steht die Menschheit tatsächlich kurz davor, Automaten eine Seele einzuhauchen.

Edward Clug reduziert in Basel Handlung und Ästhetik auf eine kühle, abstrakte Eleganz. Die Freundinnen und Freunde des Protagonistenpaares stehen sich in identischen weißen und schwarzen Kostümen gegenüber, einzig Coppélia trägt einen roten Plastikrock, der wie das Oberteil einer Kirsche aussieht. Ein großer, weißer Bilderrahmen wird im zweiten Akt nach vorne gekippt und mutiert zur Erfinderwerkstatt von Coppélius. Es ist kein Spitzenschuh in Sicht, getanzt wird in Socken; der choreografisch erstaunlich wandelbare Clug orientiert sich hier statt nach Frankreich eher Richtung Norden, zu einer volkstanzhaften, erdverbundenen statt ziselierten Ästhetik. Wo er in seinem Stuttgarter „Nussknacker“ mit Ironie und Witz bezauberte oder seinen „Faust“ in surrealen Bildern erzählte, da herrschen hier einfache, klare Linien, denen wiederum die mathematisch-subtile Faszination von Clugs abstrakten Werken abgeht.
Anders als im Originallibretto von Charles Nuitter und Arthur Saint-Léon locken Puppenbesitzer Coppélius, hier ein kalter, aber wenig dämonischer Strippenzieher (Thomas Martino) und sein Diener (Diego Benito Guiterrez) den Bräutigam Franz ganz bewusst in die Erfinderwerkstatt, mittels einer versprühten Droge. Hier wollen sie seine Seele stehlen, um die mechanische Puppe Coppélia damit zu beleben. Bereits im ersten Akt taucht ein mannshoher, glänzender schwarzer Ball auf, der gewissermaßen durch die gelöste und in schöner Symmetrie tanzende Dorfjugend hindurchkegelt und ihre Welt verunsichert. Er kehrt im zweiten Akt als schwarze Luftballons in den Mündern von Franz und seinen Freunden wieder und symbolisiert den Atem, der Coppélia eingehaucht werden soll. Das gelingt nicht, aber zwischenzeitlich hat sich Swanilda auf der Suche nach ihrem untreuen Bräutigam ins Haus geschmuggelt. Nun will Coppélius sie zur Puppe verwandeln, was ihm trotz eines langen Kusses zwischen Frau und Roboter nicht gelingt: Swanilda lebt, die Puppe bleibt tot.

In die erstaunlich gelungene Mischung aus Léo Delibes‘ Ballettmusik und den wenigen, repetitiven Kompositionen von Clugs ständigem Komponisten Milko Lazar klingt an dieser Stelle nun auch noch aus der Ferne das Blumenduett aus „Lakmé“ herein, jener selten gespielten, exotischen Oper von Delibes. Franz findet die gequälte Swanilda, beide sind in ihren hautfarbenen Trikots nun wieder wie naturgeboren. Dann senken sich zwei riesengroße rote Kirschen von oben vor dem Paar hernieder – das knallrote, belebte Gegenstück zur toten schwarzen Kugel von vorhin? Die kreisförmige und deshalb vollendete Version des nur halbkugelartigen Coppélia-Tutus? Sie dürften kaum mit den zwei goldenen Kirschen zu tun haben, die über William Forsythes „In the Middle, Somewhat Elevated“ hängen… Die Symbolik wird hier doch ziemlich rätselhaft. Jedenfalls findet sich das Paar zum Schluss und die rotglänzende Objektkunst von der Industriedesignerin Nika Zupanc gibt der Inszenierung einen Jeff-Koons-artigen Glanz.

Die Bewegungsästhetik dagegen bleibt hier eher einseitig, ist fast durchweg von volkstanzartigen Motiven geprägt – dem Aufeinanderzutanzen von Frauen und Männern, dem Formen von raffiniert ineinanderschlüpfenden Kreisen, einmal gibt es einen Aufmarsch mit Speeren, auf dem die Männer Coppélia wie zum Opfer festklemmen. Weder Tana Rosás Suñé als gefühlslose Puppe noch die sympathischen Gaia Mentoglio und Daniel Rodriguez Domenech als Swanilda und Franz bekommen viel Gelegenheit, tänzerisch oder als Persönlichkeiten Eindruck zu machen. Im zweiten Akt vervielfacht der Choreograf seine Protagonisten effektvoll, aber zugleich verwirrend. Dem Ganzen fehlt es, wie soll man sagen, ein wenig an Emotion – was Clug in „Faust“ oder „Peer Gynt“ mit seinen starken Bildern gelingt, ob sie vom Ausstatterteam Marko Japeli und Leo Kulaš stammten oder direkt aus seinem sparsamen, ausdrucksstarken Erzählen in Bewegung, das versandet hier doch im Divertissement-Charakter des alten Klassikers, gegen den man scheinbar schwer ankommt. Vielleicht schafft es irgendwann doch ein Choreograf, die Puppe Coppélia glaubhaft wiederzubeleben.
Angela Reinhardt