Rosas/Probe © Anne Van Aerscho
Performance

MUSIK UND TANZ? Wo genau treffen sich eigentlich Musik und Tanz?

Im gemeinsamen Rhythmus? Beim Einhalten von Takt und Metrum? Oder doch auf den Bögen einer Melodie? Auf mehreren Ebenen, sagen Tänzer und Choreografen. Im Unendlichen, würde Anne Teresa De Keersmaeker vermutlich antworten, aber zugleich eben auch konkret auf der Bühne im Dialog. Das beweist ihr jüngstes Werk mit dem Titel „Mitten wir im Leben sind“, der in seiner ungewöhnlichen Formulierung von einem Satz Martin Luthers inspiriert wurde, der ungekürzt „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ lautet.

In den letzten August-Tagen bei der Ruhrtriennale in Gladbeck uraufgeführt, bestritt der zweistündige Abend nur wenige Tage später, am 3. September, die erste reguläre Spielzeit-Eröffnung der Elbphilharmonie in Hamburg. Diese Tatsache ist im doppelten Sinn erstaunlich: Zum einen, weil De Keersmaekers Company „Rosas“ erstmalig in einem Konzerthaus auftritt; und zum anderen, weil es als mutiges Statement gelesen werden kann, wenn ein Tempel für (klassische) Musik mit zeitgenössischem Tanz in die erste Saison startet.

Die offizielle Langfassung des Titels – „Mitten wir im Leben sind / Bach 6 Cellosuiten“ – verweist auf die Musik. Johann Sebastian Bachs Cellosuiten, entstanden um 1720, gehören zu den Meilensteinen westlicher Kompositionskunst. Die belgische Choreografin beschäftigt sich zum wiederholten Mal mit dem bedeutendsten Musiker des Barock, doch bei dieser Kreation habe sie „sehr viel gelernt“, es sei der bisherige Höhepunkt in ihrer Laufbahn, unter dem Aspekt der Zusammenarbeit mit einem Musiker. In diesem Fall ist es der kanadische Star-Cellist Jean-Guihen Queyras.

Rosas/Probe
© Anne Van Aerschot

Die Musik zu analysieren, war für beide Ausgangspunkt. Bei dieser Annäherung gab es einen gemeinsamen Nenner: Demut vor dem musikalischen Genie Bachs und dessen Werk. „Es liegt zu viel Schönheit darin“, versucht De Keersmaeker ihre Haltung zu benennen, also hieß es, zunächst klein anfangen. „Wie hat der Komponist begonnen? An diesem zu findenden Nullpunkt wollten auch wir ansetzen,“ so De Keersmaeker über die Kooperation mit dem Cellisten.
Beide ringen um eine Balance zwischen den Emotionen der Musik und der Strenge, wie sie komponiert wurde. Gibt es einen Charakter, der alle sechs Suiten verbindet, so etwas wie eine musikalische Dramaturgie? Immerhin haben die sechs Suiten allesamt sechs Sätze und den gleichen Aufbau: Nach einer einführenden Prélude folgen – immer in der gleichen Reihenfolge – als zweites eine Allemande, dann eine Courante, viertens eine Sarabande und eine Gigue an sechster Stelle; der vorletzte, fünfte Satz bildet die Ausnahme, er wechselt zwischen Menuett, Bourree und Gavotte. Und so wie der fünfte von sechs Sätzen abweicht, so auch die fünfte von den insgesamt sechs Suiten. Und auch darauf reagiert die Choreografin: Sie verzichtete bei der Ausnahme auf eine tänzerische Ebene!

Lässt man die Préludes außer acht, so verweisen alle anderen Namen auf Tänze, die vor bzw. im Barock zum beliebten höfischen Zeitvertreib zählten. In Bachs Kompositionen sind die Charakteristika der jeweiligen Tänze noch hörbar – tanzbar indes ist die Musik mit den überlieferten Schritten nicht mehr, dafür ist sie zu kunstvoll bearbeitet und zu rasant im Tempo. „Bach entfernte sich von der Tanzmusik, aber seine Suiten haben noch dieselbe DNA wie die ursprünglichen Tänze“, beschreibt De Keersmaeker die historische Entwicklung, auf die sie entsprechend mit Bewegungen reagiert. So wie sie auch auf formaler Ebene eine tänzerische Entsprechung für kompositorische Prinzipien findet: Sie ordnet jede der ersten vier Suiten einem Mitglied ihrer Company zu. In den Präludien stellt sich die jeweilige Persönlichkeit individuell vor. Im zweiten Satz, den Allemanden, entert die Choreografin die Bühne und begleitet ihre Protagonisten. Für sie ist es von großer Bedeutung, dass sie diese vier Menschen seit Jahren kennt und über die Zusammenarbeit Vertrauen wachsen konnte. Das besteht offenbar auch zwischen ihr und Jean-Guihen Queyras, den sie integriert: Nach jeder Suite verlässt er die Bühne, um zu Beginn der nächsten an einem anderen Ort Platz zu nehmen und auf diese Weise unterschiedliche Perspektiven auf die Tänzer zu erhalten. In der letzten Suite steigert sich die Musik in einen Taumel, und De Keersmaeker lässt die gesamte Gruppe auftreten. „Ich versuche, die Musik sichtbar zu machen, Klänge zu verkörpern. Das ist ein heilender Vorgang.“

Dagmar Ellen Fischer