von Anna BEKE
Einmal Versailles hin und zurück – so ließe sich die Devise der aktuellen Premiere des Wiener Staatsballetts, der ersten unter der neuen Leitung von Alessandra Ferri, an der Wiener Volksoper zusammenfassen. Und das im doppelten Sinne: Denn die jüngste Neuproduktion des Hauses bringt nicht nur die schillernde Wienerin Maria Antonia von Österreich alias Marie Antoinette zurück in jene Stadt, die sie als 14-jährige jüngste Tochter Maria Theresias vor rund 250 Jahren verließ, um Königin von Frankreich zu werden. Auch die 2019 in Versailles uraufgeführte Tanzschöpfung des Franzosen Thierry Malandain – ausgerechnet im der Vermählung mit Ludwig XVI. gewidmeten Opernhaus, der Opéra Royal du Château de Versailles – gelangt nun erstmals auf österreichischen Boden. Ein für 2021 geplantes Gastspiel in St. Pölten fiel pandemiebedingt aus. Ohne Umschweife lässt sich feststellen, „Marie Antoinette“ steht auch der Walzermetropole an der Donau ausgesprochen gut.
Dies liegt weniger an historischer Genauigkeit – von der Geschichte bleiben in der choreografischen Abstraktion lediglich Eckpfeiler – als vielmehr an der frisch-mondänen Ausstattung. Vor allem die bezaubernden Kostüme des kürzlich verstorbenen Ausstatters Jorge Gallardo würden auch einem Neujahrskonzert ausgezeichnet zu Gesicht stehen: Nach einer zunächst ganz in Weiß gehaltenen Hofgesellschaft, einer Art carte blanche zur Vermählung des jugendlichen Brautpaares, entfaltet sich im weiteren Verlauf eine pastellig-pudrige Farbpalette, die unweigerlich an Macarons denken lässt.


Gemeinsam mit dem multifunktionalen, zugleich stark reduzierten Bühnenbild aus überdimensionalen weiß-goldenen Rahmen, die den Raum wie einen goldenen Käfig strukturieren, gleichen die raffiniert gebauschten Rokoko-Röcke aus luftigem Chiffon vor den hinter den Rahmen aufziehenden Wolken am blauen Himmel einem lebendig gewordenen Watteau-Gemälde. Einzig die nahezu omnipräsente Königinmutter Maria Theresia – überzeugend interpretiert von Rebecca Horner – deutet in ihrem konstant schwarzen Gewand, streng dem spanischen Hofzeremoniell verpflichtet, an, wie trügerisch dieses Rokoko-Idyll ist. Als roter Faden des Abends und unheilvolle Vorbotin des Todes steht sie für das kommende tosende Gewitter der Revolution.
In seiner Bewegungssprache bleibt der sanfte Reformer des Biarritzer Balletts, der nach drei Jahrzehnten sein Leitungszepter abgibt, ganz der Neoklassik verpflichtet, verbindet diese jedoch überraschend stark mit Elementen des Barocktanzes. Fließende Pas de deux mit zahlreichen développés écarté und Arabesques werden mit akkuraten Menuettschritten, Chassés in allen Richtungen, höfischen Diagonalen und Formationswechseln kombiniert.
Überzeugt das Ensemble mit durchwegs solider Leistung, so erweist sich die Erste Solistin des Wiener Staatsballetts Elena Bottaro in der Titelrolle als eigentlicher Hauptgewinn der Produktion. Mit unvergleichlich natürlicher Anmut, sogenannter „lupenreiner“ Technik und hinreißender Fußarbeit zieht sie unweigerlich alle Blicke auf sich – jene des Publikums wie die ihrer Bühnenpartner. Tatsächlich gibt es kaum eine Szene, in der sie nicht präsent ist. Der historisch bedingt eher indifferent gezeichneten Rolle des Königs geschuldet, tritt Ludwig XVI. – einfühlsam interpretiert von Andrés Garcia Torres – neben ihr ebenso zurück wie der gesamte tanzende Hofstaat.

Die deutliche choreografisch-dramaturgische Abstraktion verlangt dem Publikum allerdings einiges historischem Vorwissen ab. Dies beginnt beim körperlich wie emotional distanzierten Verhältnis des Königspaares, das selbst in der Hochzeitsnacht kaum über ein neckisch-unschuldiges Spiel hinausgeht – zwei Suchende, von dynastischen Erwartungen zusammengeführt. Es führt über die Mätresse des Königs Ludwigs XV., Madame du Barry (sinnlich-apart: Mila Schmidt), die als rote Flamme mit entblößter Brust zu den physisch-sexuellen Entbehrungen des royalen Ehepaares kontrastiert. Und reicht bis zum frivolen venezianischen Maskenspiel, in dem Marie Antoinette im schwedischen Beau Axel von Fersen (visuell ideal besetzt mit Aleksandar Orlić) jene Leidenschaft erfährt, die ihr vom Gemahl verwehrt bleibt. Symbolisch steht sie zwischen diesen beiden Männern – zwischen Pflicht und Sehnsucht, Verantwortung und Freiheit. Nur im berührenden Pas de trois des Königspaares mit einer zarten Gliederpuppe, Sinnbild des ersten gemeinsamen Kindes, blitzt eine zaghafte Innigkeit auf.
Musikalisch wird der Abend (Leitung: Christoph Altstaedt) von Werken aus dem Umfeld Marie Antoinettes getragen: Kompositionen von Christoph Willibald Gluck, den die Königin nach Kräften protegierte, sowie Joseph Haydn sorgen für heitere Wiener Eleganz und klassizistische Leichtigkeit. Zu Haydns sinfonischem Tageszyklus beschreibt Malandain den „Morgen“ der Vermählung bis zum allzu abrupt abgebrochenen „Lebensabend“, der bekanntlich mit dem Fallbeil grausam endet. Diese Struktur überzeugt historisch wie dramaturgisch, erweist sich jedoch nicht immer als förderlich für den Aufbau dramatischer Tiefe und Dringlichkeit angesichts der Unausweichlichkeit der Katastrophe.
Auch die historisch überlieferte, das Volk provozierende Extravaganz der Königin bleibt auf der Bühne erstaunlich harmlos. Bottaro zeigt eine junge Frau, die ihre wachsende Weiblichkeit genießt und sich der männlichen Bewunderung erfreut – nichts scheint hier todbringend oder verhängnisvoll. So wird Malandais Marie Antoinette eher zum glitzernden Showgirl, das mit seiner Schönheit kokettiert und zwischen kanariengelben Fächern schillert: ein Mädchen, das sich vom weißen Täubchen zum extravaganten Paradiesvogel der Versailler Gesellschaft mausert. Der Hof reagiert mit modischer Nachahmung, das weibliche Ensemble antwortet mit keckem Hüftschwung auf die neugewonnene vermeintliche Freizügigkeit. Im künstlich erschaffenen Schäferparadies des Petit Trianon – angedeutet durch vom Ensemble herbeigetragene Spielzeugschafe – wird das Rokoko-Ideal der Königin sichtbar, und sie selbst wiederholt als Spielball anderer erlebbar.
Umso überraschender bricht das unabwendbare Finale über das Publikum herein: Die Wolkenvorhänge reißen auf, dahinter schwarze Tiefe. Akustische Überblendungen lassen Kanonenschüsse, Hämmern und revoltierende Stimmen anklingen. Schwarz gekleidet erobert das Volk die Bühne, das Königspaar senkt sich dem unausweichlichen Schicksal entgegen. Auf dieses jähe, fast schockartig wirkende Ende war man – trotz aller historischer Gewissheit – kaum vorbereitet.
Für den insgesamt ausgesprochen gefälligen Abend bedeutet dies aber keinen Bruch, und das Premierenpublikum reagiert mit anhaltendem Beifall für Tänzer*innen und musikalische Leitung. Malandains „Marie Antoinette“ verlässt Wien somit zwar nicht mit dem Donner der Revolution, sondern mit dem Schimmer des Rokokos – aber gerade hierin erweist sich die Neuproduktion als publikumswirksamer Gewinn für das Wiener Staatsballett und den Standort der Wiener Volksoper.
Fotos: © Ashely Taylor










