In Stuttgart präsentierte das Colours-Tanzfestival die neuesten Tanzproduktionen aus aller Welt
Wer hat Angst vor modernem Tanz? Der sollte zu „Kamuyot“ gehen, dem fetzigen und lustigen, so wunderbar leicht zugänglichen Stück des israelischen Choreografen Ohad Naharin. Fast jeden Tag zeigte Gauthier Dance das einstündige Werk vor den abendlichen Gastspielen im Stuttgarter Theaterhaus, wo das vierte Colours International Dance Festival seinem Namen alle Ehre machte – es war bunt, vielfältig, positiv gestimmt, optisch herausfordernd, zeigte mehr Tanz als Performance. Angesichts der Weltlage wollten die Zuschauer staunen, wollten sich in Bewegung verlieren können, das merkte man.
Zum Festivalauftakte tourte Festivalleiter Eric Gauthier unermüdlich mit seinem „Tanzporter“ durch die Stuttgarter Stadtteile und animierte vor Ort zum Tanzen, auf dem Schlossplatz in der Stadtmitte gab es zwei Tage lang offene Tanzstunden für alle; dort wie auch in der Wilhelma, dem Stuttgarter Zoo, richtete sich die Einladung zum Mitmachen auch ganz gezielt an junge Leute und Kinder. Gauthier weiß genau, dass man das Publikum von morgen schon heute für den Tanz interessieren muss. Im Theaterhaus selbst waren nicht nur die Zuschauer zufrieden, sondern auch alle angereisten Künstler, weil sie in Stuttgart besonders warmherzig gefeiert werden. Weil Colours eines der ersten großen Festivals nach der Pandemie war, reisten zahlreiche Veranstalter aus der ganzen Welt an und kauften Produktionen ein.
„Kamuyot“ funktioniert wunderbar mit seiner eklektischen Mischung aus Pop und Folk. Dass Popmusik aber kein Garant für einen flotten Tanzabend ist, zeigte der „Lovetrain2020“, der zum Auftakt mit leicht gebremstem Charme durch den großen Theaterhaussaal rauschte. Zu den Hits der Synthiepop-Gruppe Tears for Fears aus den 1980er Jahren kann Choreograf Emmanuel Gat nicht recht loslassen, immer wieder gerät der Tanz in nachdenkliches Stocken. Manchmal posieren seine Tänzer wie griechische Statuen, leider streut Gat in seine gewohnte, zeitgenössische Sprache eher die Posen des Voguing als dessen dynamische Vorwärtsbewegung ein, jenes extravagante Schreiten vom Laufsteg, das hier so gut zur Musik und den verrückten, extravaganten Kostümen gepasst hätte. Optisch war es ein Spektakel, tänzerisch nicht unbedingt.
Voll Wucht donnert „Sonoma“ über die Bühne, erfunden von Marcos Morau für seine spanische Kompanie La Veronal. Choreograf ist er dabei eigentlich am wenigstens, „Sonoma“ ist surreal und geheimnisvoll, ein bewegungsreiches Bildertheater mit faszinierenden, philosophischen Texten, gesprochen auf Französisch mit Übertiteln. Wie aufgezogen sausen neun Frauen in Reifröcken über die Bühne, spannen Seile um ein großes Kreuz und sprechen empathische, ausnehmend tolerante Segenssprüche. Sind sie eine Sekte oder einfach strenge Katholikinnen? Der Segen wird zum lauten Fluch und die innige Frauengemeinschaft in Mädchenuniformen oder Nachthemden, die das komplette Stück über ständig aus einem gemeinsamen Antrieb heraus handelt, wird nach und nach zur martialischen Phalanx. Aus dem anfänglichen „Gesegnet sei…“ wird ein „Du sollst nicht“ und zum Schluss ein bedrohlich-behauptendes „Wir sind!“ – die Gruppe befreit und radikalisiert sich gleichzeitig. Mit surrealen, poetischen Bildern wie Mondkugeln oder Strahlenkränzen aus weißen Blumen zeigt Morau, wie ein Glaube zur Selbstgerechtigkeit und dann zum Fanatismus werden kann. Zum Schluss schlagen die Frauen wütend auf riesige Trommeln ein, brüllen und tanzen wie Furien: befreit aus den Fesseln der Tradition und gefangen in einem selbst auferlegten Konformismus – ein großartiges, beängstigendes Stück.
Auch unter Emily Molnar bleibt das Nederlands Dans Theater der Garant für die Klassiker der Moderne, zu Colours brachten die Holländer „Bedroom Folk“ mit, auch mit reduzierter Tänzerzahl eines der besten unter den Trippel-Stücken von Sharon Eyal. In Marco Goeckes „I love you, ghosts“ bewegen sich die Geister der Vergangenheit ruckelnd wie Zombies, ihre Schreie verstummen in leisen, traurigen Erinnerungen. Mit 20 Metalltischen schränkt William Forsythes in „One Flat Thing, Reproduced“ den Bewegungsradius der Tänzer auf schmale Gänge und harte Kanten ein: Drei verschiedene Stile und grandiose, geschmeidige Tänzer wie seit über 60 Jahren. Das Gastspiel des Briten Alexander Whitley beeindruckte vor allem technisch mit flimmernden Digitalwänden – hier liegt die Kunst weniger in der Bewegung seiner Tänzer, die mit Motion-Capture-Punkten auf den Körpern an ein Computerprogramm angeschlossen sind, als vielmehr in den irrealen, teils wunderschönen Verfremdungen, die der Datenstrom aus ihnen macht. „Anti-Body“ reduziert die Menschen auf Linien oder blinkende Zahlen, lässt sie als staubige Seelen ins Nichts verwehen – bei aller Faszination überwiegt am Ende die Angst, dass der Tanz inmitten der Bits und Bytes vollkommen verschwinden könnte. Zurück zum Ursprung geht Dada Masilo mit ihren Barfußtänzen aus Afrika – in „The Sacrifice“ variierte die Choreografin weniger das Thema von Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ und zeigte stattdessen das große Thema ihres Kontinents, den Kreislauf des Lebens von vibrierender Freude zu einer nicht minder intensiven Klage über den Tod.
Spannend waren auch die kleinformatigeren Produktionen, die Kurator Meinrad Huber eingeladen hatte, etwa das dunkle Zaubertheater des Out Innerspace Dance Theatre aus Kanada: E.T.A. Hoffmann hätte es sich nicht gruseliger ausdenken können. Ein schnappender Regenschirm, der Menschen jagt, zuckende Gliedmaßen Hand aus dem Nichts und immer wieder durch die Luft fallende Menschen. In „Bygones“ gerieten ganze Zimmer in Bewegung, wie im Alptraum jagten die Dinge die Menschen, Erinnerungen kehrten im Stück von David Raymond und Tiffany Tregarthen als schwarze Gestalten zurück. Die vier Tänzerinnen in “Muyte Maker” von Flora Détraz sind gleichzeitig Stimmvirtuosinnen: In lupenreinen Harmonien singen sie Gassenlieder aus dem Mittelalter und hängen dabei mit ihren Zöpfen an Sicheln oder Schaufeln, auf raffinierte Weise Gefangene ihrer Zeit und ihrer Ehemänner. Auf einem Stuhl sitzend, tanzen sie mit dem Gesicht, sie flirten, gurren, spielen – nur manchmal bricht ihre Wut durch, ein kleiner Horror, der zwischen den Liedern vom Kuckuck erschauern lässt. Ob wir uns gemäß dem Alter unserer Körper bewegen oder doch so jung, wie wir uns fühlen, das fragt sich die Italienerin Sofia Nappi in ihrer Uraufführung „IMA“. Fünf schrullige Greise kramten aus einem alten Rollkoffer Erinnerungen hervor; was sich wie ein liebevoller Tanztee anlässt, springt plötzlich zwischen den Zeiten: Die Alten werfen munter ihre Glieder und legen irgendwann ihre großen Maskenköpfe ab. Die jungen Körper aber, die darunter hervorkommen, bewegen sich am Ende kraftlos und nostalgisch. Alter findet nur im Kopf statt, will Nappi uns das sagen mit ihrem kleinen, feinen Kammerstück? Für sie war Colours der große Durchbruch, sie erhielt gleich mehrere Einladungen zu weiteren internationalen Gastspielen.
Schwere Themen hatten es schwerer beim Publikum: Mit einer Tanzsprache zwischen Hip-Hop, Exerzierplatz und Kinderspiel zeigt der Londoner Botis Seva in „BLKDOG“ die bedrückende Kindheit der Ghetto-Jugend, die Einsamkeit unschuldiger Kinder, die im Heranwachsen immer mal wieder um einen Toten herumstehen, die Liebe als mechanischen Sex kennen lernen und die Welt als ein System von Siegern und Verlierern. Mal werden die sieben Tänzer, deren Gesichter unter den Hoodies kaum sichtbar sind, zu trippelnden kleinen Zwergen, dann fahren sie auf Kinderfahrrädern, mittenhinein knallen Bilder von Brutalität und Düsternis, etwa eine unbeholfene, verzweifelte Herzmassage. Ob der Papa nicht eine Geschichte vorlesen könnte, fragt ab und zu ein dünnes Stimmchen aus dem Off – abgestumpft und traurig halten die Erwachsengewordenen zum Schluss ihre Kinderhäubchen in den Händen: Sie hatten nie eine Chance. Seva ist eine neue Stimme auf dem internationalen Choreografen-Tableau und vielleicht die große Entdeckung dieser Colours-Ausgabe.
Angela Reinhardt