Karl Alfred Schreiner über seine zeitgenössische Neufassung des Ballettklassikers „Giselle“ für das Staatstheater am Gärtnerplatz
Fotos © Marie-Laure Briane
Seinen Einstand als Ballettdirektor und Chefchoreograf in München feiere Karl Alfred Schreiner schon vor neun Jahren – damals mit einer gelungen-eigenwilligen Neudeutung von Tschaikowskys „Dornröschen“. Als erste Premiere des 20-köpfigen Tanzensembles im frisch renovierten Stammhaus folgte 2017 „Der Nussknacker“. Nun widmet sich Schreiner mit „Giselle“ zur Musik von Adolphe Adam zum dritten Mal einem weltbekannten und zugleich urromantischen Ballettreißer – auf ganz pragmatisch-individuelle Weise, wie er betont.
In seiner „Giselle‘“ wird geschlechterübergreifend in Socken getanzt. Die traditionelle Fußbekleidung mit Stiefeln und Spitzenschuhen wurde für diese von dem Münchner Modelabel Talbot Runhof mit Kostümen ausgestattete Produktion über Bord geworfen – ebenso wie das in den großen klassischen Bearbeitungen seit der Uraufführung 1841 in Paris meist beibehaltene soziale Gefälle zwischen dem zarten Bauernmädchen Giselle und ihrem blaublütigen Verehrer Albrecht, der sich der Liebe wegen verstellt.
Allein in Deutschland kommen diese Spielzeit sieben Neuadaptionen heraus. Was macht das Stück für Sie heute so interessant, Herr Schreiner?
Noch vor der Pandemie hatte ich „Giselle“ für den Herbst 2020 geplant, bin dann aber – bereits vor Bekanntwerden der strengen Produktionsregeln – auf „Undine – Ein Traumballett“ umgeswitcht. Ein Stück über das Nicht-Zueinander-Kommen-Können unter eingeschränkten und abstandsdiktierten Bedingungen zu erarbeiten, erschien mir eher machbar. Giselles intime Beziehungsgeschichte zu erzählen, konnte ich mir dagegen überhaupt nicht vorstellen. Also habe ich meine Idee für diesen dritten Klassiker, den ich in meiner Ära hier unbedingt machen wollte, einfach aufgeschoben.
Behält man Titel und Originalmusik eines Klassikers bei, schürt man ja Erwartungen. Wie holt man solch ein Werk ins heute und wie sind Sie mit der Gratwanderung umgegangen, was bleiben darf oder was wegmuss?
Natürlich habe ich großen Respekt vor dem Original und habe es in meiner Zeit als Halbsolist an der Wiener Staatsoper in den 1990er Jahren selbst getanzt. Als Choreograf oszilliert man zwischen der Faszination für die Vorlage und inhaltlichen Vorbehalten. Bei jeder Szene, jeder Nummer habe ich hinterfragt, warum sie da ist und überlegt, was macht die Szene mit der Figur Giselle, was will uns die Szene über Giselle erzählen. Das war meine Hauptherangehensweise.
Mein Eindruck ist, dass Sie sehr menschlich an den Stoff herangegangen sind.
Ich habe mich vor allem auf das konzentriert, was mit Giselle passiert und was in ihrem Kopf vorgeht. Damit ist es mir gelungen, die Geschichte zu vereinfachen und zugleich psychologisch komplexer zu machen. Bei mir ist nicht wichtig, ob Albrecht ein Prinz ist, oder dass er sich für etwas ausgibt, was er nicht ist. Stattdessen erzähle ich von einem Burschen, der schlicht zu spät zum Stelldichein kommt. Und Giselle malt sich sonst was aus, wo er abgeblieben sein könnte.
Wie lässt sich da das Bild einordnen, wenn Alexander Hille als Albrecht mit weißen Lilien auftritt?
Wie schon gesagt, habe ich großen Respekt vor dem Original, weil es zu der Kunstform gehört, die ich von ganzem Herzen liebe. Und obwohl ich Giselles Geschichte anders aufrolle, erlaube ich mir an gewissen Stellen dennoch für den Kenner Zitate einzufügen, die ich im Original einfach für unschlagbar halte. Albrechts Auftritt im 2. Akt ist ein toller, ein zentraler Moment im Originalstück – fast symbolisch. Einige so emblematische Bilder wollte ich auf meine Reise einfach mitnehmen. Sie sollen auch eine Art Verbeugung vor dem Original sein. Darum, „Giselle“ als Meisterwerk der Ballettkunst zu zertrümmern, oder völlig neu oder ganz anders zu erzählen, ging es mir nie.
Musikalisch wird in Ihrer Fassung eine in Teilen neu arrangierte Interpretation der Partitur von Adolphe Adam versprochen. Wie weit haben Sie und Dirigent Michael Nündel tatsächlich eingegriffen?
Die Ouvertüre – insbesondere die ersten zwei Musiknummern, wie sie im originalen Ablauf sind, haben diesen Duktus, zu dem das Arsenal an unterschiedlichen Figuren(gruppen) aufmarschiert. Meine Giselle sitzt am Anfang allein in einer Scheue, und ich musste einen Zugang finden, wie ich in ihren Kopf hineinkomme. Mit der ursprünglichen Musik war das zum Scheitern verurteilt. Dann habe ich Michael Nündel um eine kammermusikalische Reduzierung gebeten. Adams Musik quasi runter getuned auf Tuba, Kontrabass, Cello und Harfe. Im Prolog erklingen die Themen der Mutter, von Albrecht, Hilarion und die zwei Leitmotive der Giselle. Wir lassen sie bloß von Soloinstrumenten spielen – manchmal sehr langsam, manchmal sehr schnell musiziert. Ein Mittel um klar zu machen, da driftet jetzt jemand innerlich ab.
Alles im Stück dreht sich also um die Empfindungen der Titelfigur?
Das ist es, was mich an der Geschichte fasziniert. Giselles Abdriften in den Wahnsinn nimmt auch musikalisch im ersten Teil viel Raum ein. Für mich die zentrale Stelle des Stücks. Verfällt jemand dem Wahnsinn, müssen diejenigen rundherum gar nicht unbedingt etwas falsch gemacht haben. Das Umfeld kann sich sogar völlig richtig verhalten haben. Die Mitmenschen werden mit einem Zustand konfrontiert, in dem die fragliche Person einfach nicht mehr zugänglich ist.
Ist Giselle bei Ihnen so eifersüchtig, dass sie sich selbst in den Wahnsinn treibt?
Wir haben sehr an der Deutungsspannung dieser Szenenzweideutigkeit von Realität oder Einbildung gearbeitet. In der Liebe geht es häufig vergleichbar ambivalent zu. Eben diese Schattierungen, die eine Beziehung womöglich durchläuft, haben uns besonders interessiert. Eifersüchtig zu sein, kann was Schönes sein, weil es eine Bestätigung beziehungsweise Wertschätzung für den anderen bedeutet. Krankhafte Eifersucht dagegen ist furchtbar und innerhalb einer Beziehung toxisch. Und genau darum geht es. Um in den Wahnsinn getrieben zu werden, müssen die Emotionen schon immens sein. Letzten Endes will ich aber nicht erzählen, dass Albrecht etwas Heftiges gemacht hat, sondern dass Giselle sich höchst Drastisches vorstellt.
Also rückt die Psychologisierung der Hauptfigur bei Ihnen stärker in den Vordergrund?
Für mich ist so ein Momentum nachvollziehbarer als ein Skandal, dem eine überholte Gesellschaftshierarchie mit Zwangsverlobung zugrunde liegt. Anhand eines solchen herkömmlichen Erzählgerüsts vermag ich persönlich, niemandem am Ende ernsthaft von Vergebung zu erzählen.
Gibt es – dennoch – ein Happy End?
Ja. Giselle stellt sich zwei Akte lang das Düsterste vor, will Albrecht fast umbringen. Dann ist es dazu einfach zu spät. Die spirituelle Ebene habe ich damit von Anfang an drin im Stück. Giselle phantasiert und denkt sich in eine Gruppe gleichgesinnter Menschen hinein, die Rache nehmen wollen an dem einen Geschlecht.
Und da kommen jetzt die Wilis ins Spiel?
Ich habe mich schon immer gefragt, wer eigentlich und warum Myrtha die Chefin der Wilis ist. Sie hat ein Interesse daran, möglichst viele Mädchen und Frauen in ihrer mordlüsternen Clique zu haben. Im Originallibretto sind ja beide – Giselle und Bathilde – zuerst ahnungslos und sich freundschaftlich zugetan. Dann deckt Hilarion den Betrug Albrechts an beiden auf. Und dann ist da noch diese Myrtha. Um ein bisschen in Giselles Kopf aufzuräumen, habe ich meinen Figurenkanon recht klein gehalten. Das Publikum sollte dem Plot leicht folgen können, auch wenn man das Stück noch gar nicht kennt.
Verzichten Sie auf die sonst übliche Entourage wie die der Eltern von beiden Liebenden?
Mir geht es nicht nur um junge Leute per se. Ich wollte eine Liebesbeziehung, die so ihre Schwierigkeiten hat, in einen gesellschaftlichen Kontext stellen. Es gibt ja in jeder Beziehung einen privaten und einen öffentlichen Raum – damit habe ich mich sehr beschäftigt. Die Tragik der Giselle liegt meiner Meinung nach auch darin, dass ihre Situation öffentlich gemacht wird.
Warum muss Hilarion überhaupt dran glauben und zu Tode getanzt werden?
Da sind wir genau beim Punkt. Im Original ist er ja einfach ein armer Hund. Trotzdem habe ich mir auch für ihn eine Auflösung in Giselles Kopf überlegt, die sich hoffentlich für das Publikum als schlüssig und logisch erweist. Schließlich sollen die Zuschauer bei einem so opulenten Handlungsballett die Charaktere verstehen und sich zumindest emotional mit den Figuren identifizieren können. Sich für die eigene Kompanie mit Personenkonstellationen auseinanderzusetzen, macht vor allem in der Gruppe Spaß. Einen Charakter zu entwickeln, ist doch immer noch ein komplexeres Unterfangen als abstrakte Soli oder Duette aus der Freude an der Kreation heraus zu schaffen.
Was erwartet die Zuschauer: reines Kopfkino oder handfester Betrug?
Man kann sich gut vorzustellen, dass alle Situationen – so geradlinig, wie ich versucht habe sie zu erzählen – real stattgefunden haben könnten. Am Schluss wird jedoch hoffentlich deutlich werden, dass sich alles so nur in Giselles Kopf abgespielt hat. Nichtsdestoweniger bleibt es die Geschichte eines Mädchens, das sich in jemanden verliebt, der nicht ganz zu ihr gehört. Daneben gibt es noch einen anderen Mann, der gerne mit Giselle zusammen wäre, aber leider nicht ihr Fall ist.
Vesna Mlakar