Giulia Tonelli und Wei Chen © Gregory Batardon
Kritiken

„The Cellist“ im Opernhaus Zürich

Cathy Marston ist in der kommenden Saison Ballettdirektorin und präsentiert dem Zürcher Publikum ihre exquisite Visitenkarte: „The Cellist“, uraufgeführt 2020 mit dem Royal Ballet. Marston war 1994 in der Ära Heinz Spoerli Tänzerin in Zürich und später Ballettdirektorin in Bern. Nach vielen Jahren, Erfolgen und Preisen als international tätige Gastchoreografin kehrt sie, die ans Erzählballett glaubt, ins Opernhaus, wo man Geschichten schätzt, zurück.

Und zwar mit der tragischen Geschichte der Cellistin Jacqueline du Pré (1945-1987). Als intuitiv spielende Musikerin und Gattin von Daniel Barenboim (*1942) fällt sie an Konzerten durch exzessiven Körpereinsatz auf, wovon zahlreiche (Film-)Aufnahmen zeugen. Auf der Bühne werden die musikalischen Erfolge der beiden durch Tänze mit Vinyl-Platten dargestellt, das Corps de Ballet tritt als Weggefährten und Publikum auf oder verkörpert ein ganzes Orchester, bringt Klänge zum Tanzen. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere erkrankt du Pré an Multipler Sklerose, verstummt und stirbt allmählich.

Fotos: © Gregory Batardon

Giulia Tonelli

Diese Cellistin zu tanzen ist eine große Herausforderung für Giulia Tonelli. Die erste Solistin ist zur Zeit auch im Kino zu sehen, denn Laura Kaehr hat den Dokumentarfilm „Becoming Giulia“ über sie gedreht, der einen intimen Einblick in ihr Leben als Balletttänzerin und junge Mutter zeigt. Mit der ihr eigenen Leidenschaft und Lebendigkeit gelingt es Giulia Tonelli, die Entwicklung der Musikerin vom quirligen Kind zur expressiven Künstlerin und erschöpften Frau glaubhaft aufzuzeigen.

Wei Chen

Der eigentliche Geniestreich von Cathy Marston und Dramaturg Edward Kemp ist es, dass die Geschichte aus der Sicht des Instruments erzählt wird. Ein Mann (ein großartiger Wei Chen) verkörpert das eigentlich sehr feminine Cello. Er schmiegt sich an den Kasten, erhebt sich und sucht nach einer Spielerin, die es zum Klingen bringt. Es ist schlicht wunderschön, wie sich das Cello dem Kind mit fordernden Pirouetten und weichen Bewegungen nähert, die junge Frau umgarnt, motiviert und tröstet. Und es knistert gewaltig, als die Cellistin sich in den eitlen und fordernden Dirigenten (Esteban Berlanga) verliebt und das Violoncello nicht mehr die erste Geige spielt. Aus dem virtuosen Pas de Trois zu Edgar Elgars Cello-Konzert zieht Wei Chen sich schnell zurück und ist eifersüchtiger Zaungast bei der fröhlichen Hochzeit und dem leidenschaftlichen Liebes-Pas de Deux. Letztendlich aber bleibt das Cello bei der Cellistin, gezeichnet von Ermattung und MS-Symptomen, und umarmt sie, als der Dirigent sie aufgibt und seine Karriere weiterverfolgt.

Giula Tonelli und Wei Chen

„The Cellist“ dauert eine Stunde und die dramaturgisch perfekte Choreografie zeichnet sich durch großen Bewegungsreichtum aus. Gesten sind mit Humor eingesetzt, mimetische – zum Beispiel beim Cello-Spiel – nur in kurzen Momenten, dann gehen sich schnell in fließende Bewegungen, gewagte Hebefiguren und harmonische Pas de Deux und Trois über. Dezent die Kostüme von Bregje van Balen, das Corps de Ballet, der Spitzentanz. Getanzt wird nicht zum Selbstzweck, sondern im Dienst der Geschichte, der Figuren und ihrer Beziehungen. Cathy Marston durchleuchtet die Familie als Ort der Zuflucht auf feinfühlige Art und Weise und geht empathisch mit Krankheit, Abschied und Tod um.

Die Musikerin stirbt, aber die Musik lebt weiter. Und was für eine Musik! Der bekannte Tanzspezialist Philip Feeney hat Stücke, die Jacqueline du Pré mit Barenboim gespielt und aufgenommen hat, zu einer raffinierten und den Abend tragenden Komposition verwoben. Die Philharmonia Zürich mit Lev Sivkov am Solo-Cello spielt unter der Leitung von Paul Connelly u. a. Elgar, Beethoven, Rachmaninow, Fauré – und auf der Bühne sieht man die Klänge tanzen.

Mit dem Körper bewegende, gar herzzerreißende Geschichten erzählen, das kann Cathy Marston. Zürich dankt es ihr mit großem Applaus und freut sich auf mehr.

Evelyn Klöti