Ein opulenter Geschichtsabriss beleuchtet das Miteinander.
Das berühmte Foto von Vaslav Nijinsky in seinem künstlich rosenblättrigen Kostüm für Fokins „Le Spectre de la rose“ ziert den Schutzumschlag. Elegant schwarz gebunden ist der eigentliche Band. Was sich zwischen den Deckeln befindet, ist eine ungemein profunde Darstellung von „Dance & Costumes“. So nennt Elna Matamoros ihren 404 Seiten langen englischsprachigen Abriss mit dem Untertitel „A History of Dressing Movement“. Der gut 50 zusätzliche Seiten zählende Anhang aus umfassender Bibliografie, gesichteten audiovisuellen Quellen sowie Bildnachweisen zeigt den Umfang, den die gebürtige Spanierin zur Vorbereitung bewältigt hat. Dass ihre Karriere als Tänzerin, Ballettmeisterin und Tanzwissenschaftlerin ihr dabei behilflich war, steht außer Frage.
In teils ausführliche 13 Kapitel gliedert sich der Hauptteil, der zugleich ein Marsch durch die Tanzgeschichte unter dem Gesichtspunkt des Kostüms ist. Was trägt es zum Tanz bei, inwiefern unterstützt und verstärkt es seine Aussage, was sagt es über die Mode und den Geschmack der jeweiligen Zeit und wie greift es beides auf – diese und weitere Fragen werden anhand konkreter Beispiele erörtert. Verhüllt oder befreit das Kostüm den tanzenden Körper, ist es vornehm höfisch, rustikal, gar frivol; erzählt es selbst etwas, ob schlicht oder prunkvoll? Und wie hat sich der Schuh besonders der Tänzerin entwickelt? Vieles, was man weiß, findet sich unterhaltsam und wissend erzählt wieder, vieles jedoch ist in der Detailgenauigkeit neu und erfrischend aufklärerisch.
Der Steifzug beginnt am Hof Ludwigs XIV. und seines Ballet de cour und reicht bis in die tänzerische Gegenwart, ungeachtet stilistischer Grenzen. Von den Verdiensten jener frühen Ballerinnen liest man, die den Reifrock gekürzt oder ganz durch legere Kleidung ersetzt, den Absatzschuh abgeflacht, Perücke und Maske beseitigt haben. Selbst Abbildungen von 2009 zum Anfertigen von Blasebalg-Ärmeln als wichtiger Bewegungshilfe für die Hemden und Jacketts männlicher Tänzer illustrieren den Text. Weil er über die inhaltliche Information hinaus reiches Bildmaterial bietet, weniger bekannte historische Darstellungen einbeschlossen, ist er zudem ein anschauliches tanzgeschichtliches Kompendium.
Den Körper entschleiern, so heißt ein Kapitel, das von Isadora Duncans Fast-Nackt-Tanz über Nijinskys raffiniert erotischen Goldsklaven bis zum realen Nackttanz der Laban-Jünger auf dem Monte Verità reicht. Wenn dem Tutu und seiner gestalterischen Funktion nicht ein eigener Abschnitt gewidmet wäre, auch einem Kleid, das Lufttouren geradezu mitvollzieht, hätte das sehr erstaunt. Gleiches gilt für die in den Kostümentwurf eindringenden Folklorezitate, Spaniens Escuela Bolera als Ideengeber und den von den Ballerinen praktisch stets individuell zugerichteten, indes sorgfältig vorproduzierten Spitzenschuh. Über Marius Petipas virtuose Ballettschöpfungen mit perlenbestickten, reich applizierten Kleidern erfährt man etwas, sieht im Foto ausgebreitete Tellertutus und den oberkörperfreien Ali aus „Le Corsaire“: Geschlechterbilder, wie sie auch der Tanz mit befördert.
Duncans antikisierende dünnstoffliche Verhüllungen sind ebenso dankbare Forschungsobjekte wie Loïe Fullers patentierte Stofffluten für den Serpentintanz oder die Entwürfe für einen mechanisierten Tanz bis hin zu Schlemmers „Triadischem Ballett“. Würdigt das vorletzte Kapitel die bahnbrechenden Ausstattungen der Ballets Russes, so präsentiert der Schlussteil neuere Entwicklungen, von Zizi Jeanmaires berühmtem Federfächer bis zu Merce Cunninghams Computerexperimenten. Die Türen zur Kreativität, bezogen auf das Miteinander von Tanz und Kostüm, sind heute offen wie nie zuvor, lautet das Resümee von Elna Matamoros. Wie recht sie damit hat, wird die Zukunft zeigen.
Volkmar Draeger
Elna Matamoros: „Dance & Costumes. A History of Dressing Movement“, Alexander Verlag Berlin 2021, 468 S., 170 Abbn., gebunden, 39,90€, ISBN 978-3-89581-547-8