Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“: Mit das Schönste an Musik, was die Barockzeit hervorgebracht hat. Der deutsch-britische Komponist Max Richter nimmt 2012 die schönen Melodien auf, versieht sie aber auch mit modernen Elementen. Und immer noch geht es um die Kräfte der Natur, ihr Erblühen, ihr Absterben, ihre Wiedergeburt. Emotional berührt von der Musik hat Ballettdirektor Guido Markowitz in Pforzheim die existenziellen Kräfte der Natur in Tanz übersetzt. Die zarten Saiten der musikalischen Komposition, die werden im Tanzstück „Die vier Jahreszeiten“ von der Solistin Maria Gawrilenko bedient. Die Geigerin der Badischen Philharmonie Pforzheim steht sogar ein paar Minuten lang mitten auf der Bühne, umwogt von tanzenden Körpern.
Ansonsten: Pustekuchen mit Schwelgen in harmonischen Klängen der von Max Richter „rekomponierten“ vier Jahreszeiten von Vivaldi und sich daran anschmiegendem, harmonisierendem Ballett. Der Zuschauer des neuen Tanzstückes des Pforzheimer Ballettdirektors Guido Markowitz schwebt alles andere als locker-flockig durch die Jahreszeiten. Keine niedlich blökenden Lämmer, kein verzückendes Vogelgezwitscher. Gezwitscher schon als Andeutung des Frühlings, aber damit hat es sich auch schon.
Mutig betritt Guido Markowitz mit seinem Ensemble neues Terrain, und dieses ist überwiegend düster, schwermütig, von nur wenigen leichten Momenten gezeichnet. Auch farblich. Der Frühling kommt als zarte Pastell-Andeutung in den Kostümen, die aber von eher dunklen oder auch silbrig glänzenden kalten Tönen verschlungen werden. Auch im reduzierten Bühnenbild, das wie schon öfter durch transparente und flexible „Vorhänge“ einen mal abstrakten, mal gegenständlichen, oft organischen Accessoire-haften Beigeschmack gibt. Gleich zu Beginn erinnert das transparente Bild vor allem wohl Pforzheimer an die Zerstörung ihrer Stadt am 23. Februar 1945. Der jährliche Gedenktag erhält die Bilder lebendig.
Im Prinzip setzt Guido Markowitz seine Linie fort. Denn bereits beim Tanzstück „Metamorphosen“ ist ein von der Liebe zermürbtes Paar an den Wolkenkratzern der Großstadt zerschellt. Der Mensch: mutterseelenallein und das manchmal auch inmitten seinesgleichen. Die Individualität zerfällt, der Mensch geht an sich selbst kaputt. Er fällt, er zittert, er versucht, sich krampfhaft an seinem Gegenüber festzuhalten, wird von seiner sozialen Umgebung getragen und dann doch niedergetrampelt.
Auch nun zittert, zögert, kämpft, stößt, huscht das Ballettensemble in meist modernen, aggressiven, abgehackten und nur ab und zu an anmutiges klassisches Ballett erinnernden Bewegungen durch die vier Jahreszeiten. Diese verschwimmen ineinander. Etwas vom Sommer taucht im Winter auf. Der Frühling ist nur ein Schatten. Und gekämpft wird immer, ums Überleben. Im Mittelpunkt steht Tänzer Abraham Iglesias Rodriguez – mal mit seiner Begleiterin Soraya Leila Emery, mal ohne. Immer aber und ganz offenbar nach dem Sinn des Lebens Ausschau haltend. Sein suchender Gesichtsausdruck, seine verkrümmte Haltung, die in wenigen Augenblicken federleicht nach oben Richtung Glückseligkeit strebt und dabei die Schwerkraft zu überwinden scheint – es ist dann doch eher die Mühsal des Lebens, die an seinen Füßen zerrt, ihn hinabzieht, sich in seiner Verzweiflung wälzend. Um ihn herum tobt das Leben, braune, ameisengleiche Körper wuseln über die Bühne. Dann: Stille. Man kann den imaginären Schnee, den das Ensemble in die Luft wirft fast fallen hören. Elias Bäckebjörk umspannt kraftvoll die Bühne, er sieht aus wie ein silberner Ritter, mit einer paillettenglänzenden Maske, die außer seinem haarigen Pferdeschwanz nichts von seinem Kopf freilässt. Hannibal Lector lässt grüßen. Es wird ein ungleiches Ringen und doch steht Abraham Iglesias Rodriguez immer wieder auf. Taumelnd zwar, aber er steht. Und den Zuschauer fröstelt in den Momenten der Stille, in denen nur der eisige Winterwind zu hören ist. Dass es der Winterwind ist hört man einfach. Der klingt anders.
Es ist ein Aufführung, die alle Sinne anspricht, die einem als Zuschauer alles abverlangt. Keine leichte Kost, aber wer hat schon gesagt, dass Leichtes interessant ist? Man kann sich abarbeiten, wenn man mit dem Ballettensemble die vier Jahreszeiten durchschreitet. Man kann sich jedenfalls immer hineinfallen, mitreißen lassen. Und man könnte das Stück 1000 Mal anschauen und hätte doch nicht alles gesehen. Zum Glück ist das Bühnenbild reduziert, denn die Masse der Tänzer fordert das Auge.
Dass Ballettchef Guido Markowitz so mutig war, zum dritten Mal den Chefdesigner von Hugo Boss, Marco Falcioni, einzubinden war ein kluger Schachzug. Aber auch ein herausfordernder, denn es galt, die „Laufsteg-Denke“ an der Garderobe abzugeben. Herausgekommen sind auffällige, mit glänzenden Partien bestimmte Muskelgruppen hervorhebende, durch Raffung Fell imitierende Kostüme. Weite Beinkleider geben die benötigte Bewegungsfreiheit. Lediglich die Partnerin des Solo-Tänzers wird immer wieder ausgebremst, wenn sie ihren mit schweren, rasselnden Pailletten benähten schwarzen Schurz tragen muss. Am Ende hat Abraham Iglesias Rodriguez ein ganzes Leben tänzerisch erzählt. Das macht er großartig. Und nicht nur mit dem Körper, das Gesicht tanzt mit. So wird er der seltenen Ehre, dass einem einzelnen Tänzer eines Ensembles quasi eine Choreografie auf den Leib geschneidert wird, gerecht.
Die Vier Jahreszeiten – das neue Tanzstück von Guido Markowitz am Stadttheater Pforzheim – weitere Vorstellungen bis Anfang Juni 2020. Musikalische Leitung: Alexandros Diamantis – Badische Philharmonie Pforzheim. Bühnenbild und Videoinstallationen: Philipp Contag-Lada. Kostüme: Marco Falcioni. Choreografische Assistenz: Damian Gmür. Dramaturgie: Alexandra Karabelas. Es gibt öffentliche Proben und eine moderierte Vorstellung für Kinder (8. März).
Susanne Roth