Zeitgenössische Tanzströmungen aus Norwegen erleben – das versprach Walter Heuns diesjährige Ausgabe von „depARTures“. Die Performanceszene dort sei so intensiv und breitgefächert, dass er – Faktoren wie Pandemie oder Budget mal komplett außen vorgelassen – locker drei Monate mit Programm hätte füllen können. Ein solch langer Rundumschlag an radikal Ungewöhnlichem – wie man es bisweilen bereits aus skandinavischen Ländern kennt – bleibt allerdings vorerst ein Veranstalter-Traum.
Stattdessen hat die zwei Wochen und unterschiedliche Spielorte umfassende Münchner Reihe anhand von fünf ausgewählten Beispielen einmal mehr bestimmte künstlerische Positionen an der Schnittstelle zu anderen Kunstformen und soziopolitischen Fragestellungen ausgelotet. Nach Gästen aus dem arabischen Raum, Kanada, Katalonien und den Niederlanden in den Vorjahren hofften „Unique Performances and Dance from Norway“ auf ein nach Neuem gieriges und aufgeschlossenes Publikum.
Dabei relativierte sich die im Titel propagierte nordische Exotik gleich zum Auftakt mit Caroline Eckly – einer gebürtigen Pariserin, die nach ihrer Ausbildung zur Balletttänzerin in Toulouse und Nürnberg engagiert war. Seit 2008 ist Eckly Mitglied von Norwegens führender moderner Tanzkompanie Carte Blanche. Eine intensive Zugehörigkeit, die sich definitiv im faszinierenden Ausdrucksspektrum ihres durchtrainierten Körpers niederschlägt. Davon lebt auch ihre zur Eröffnung des Minifestivals im Carl-Orff-Saal gezeigte Soloperformance „and yes, I said yes, I will yes” maßgeblich.
Entstanden ist das knapp einstündige Stück in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Choreografen Marcelo Evelin, was die andere, recht ursprünglich feurige Komponente des Abends erklärt. Dieser brandet in seinem Mittelteil eruptiv wie ein aufbrechender Vulkan aus dem Bühnenzentrum gegen die kreisförmig um die Performerin platzierten Zuschauer. Eckly, lediglich mit einem knisternden Rockgebilde aus gold-silbernen Rettungsfolien bekleidet, Haut und Haare mit goldener Farbe übertüncht, grölt schelmisch und lacht.
Als Nebensache, die man sich erlesen muss, schwingt inhaltlich die deutungsoffene Idee mit, dass diese anfangs und zum Ende hin in kontrolliert zurückgenommenen Armbewegungen und klaren Handgesten geradezu ritualhaft Respekt einfordernde, später die Zunge bleckend ins tief-breitbeinige Plié absackende und von der Hüfte aufwärts mal nach vorne, mal nach hinten unnatürlich wegkippende Figur auf Spuren der mythologischen Medusa wandelt. Tolldreist die eigenen, zu großen Blickkratern übermalten Augen geschlossen.
Weiter ging es mit „Working with Children“ – einem ethisch-choreografischen Essay der aus Australien stammenden Nicola Gunn. Als Performance-Künstlerin und Autorin bespielt sie in Norwegen das Feld sozial engagiert auftretender Kunst. Oft aufmüpfig und voller Humor. Gemeinsam mit fünf zwölfjährigen Schülerinnen aus München klopfte sie in einem sich letztlich doch noch zur Performance steigernden Live-Workshop-Ambiente Risiken nach moralischen Grundsätzen ab, die Intimität oder Bloßstellung bzw. privates Verhalten im Gegensatz zu unserem Auftreten in der Öffentlichkeit in sich bergen. Das Publikum damit herausfordern, sich auf weiter Strecke zwischen Lesen/Begreifen der in Englisch auf die Hinterwand projizierten Ausführungen und tänzerischen Happenings im Vordergrund entscheiden zu müssen.
Als nächstes verhandelten die norwegische Choreografin Ingrid Berger Myhre und der komponierende Tonkünstler Lasse Passage in ihrem Duo „Panflutes and Paperwork“ absolut rhythmisch, humorvoll-unprätentiös und wunderbar spielerisch vieles neu: das Verhältnis von Musik zu Tanz, von Bewegung in ihrer theatralen Lesart und Partituren, von methodischem Handwerk und Ausdruck. Genau so differenziert, wie man hier im Umgang mit Sichtweisen war, so durch und durch aufwühlend intim trat Daniel Mariblanca auf. Der Spanier tanzt seit 2016 in der Norwegian National Company of Contemporary Dance Carte Blanche. Für sein schonungslos offenes Nackt-Solo „71 BODIES 1 DANCE“ hat er sich Verletzlichkeit, Stärke, Scham und Lust anhand 71 persönlicher Erfahrungen aus Transgender-Kreisen regelrecht einverleibt – das eigene binäre Sein und Empfinden inbegriffen. Ohne den Schutz irgendeiner Verkleidung, nur über (s)einen muskulär beredten, bewusst zur Betrachtung in einem schwarz ausgekleideten Bühnenraum in den Mittelpunkt gerückten Körper, regt er tatsächlich jeden im Publikum eindringlich subtil zum Nachdenken über Geschlechterzugehörig an.
Zu guter Letzt führte die Osloerin Ingri Fiksdal das Publikum in den öffentlichen Raum. Eingebettet in eine akustische Kulisse der norwegischen Musikerin Jenny Hval und des Geräuschkünstlers Lasse Marhaug ließ ihre „Diorama“-Performance Passanten das Vergehen von Zeit spüren – verquickt mit der langsamen Veränderung einer aus unförmigen Objekten temporär auf einem gepflasterten Stadtplatz inszenierten Landschaft in ihrer Wechselbeziehung menschlicher und nicht-menschlicher Körper. Da zückten viele ihre Handys, um Momentaufnahmen der unter glitzernden Paillettenstoffen verborgenen, meist in Bodennähe agierenden Akteure festzuhalten.
Vesna Mlakar