Tanz bieten mit Halberstadt und Cottbus auch kleine Ensembles
Auch außerhalb der großen Metropolen arbeiten Choreografen und Tänzer fleißig daran, ihrem Publikum Tanz anzubieten. Beispiel Halberstadt. Dort kann in seiner vierten Spielzeit am Nordharzer Städtebundtheater Can Arslan auf Erfolge zurückblicken. Man lerne hier, mit minimalen Bedingungen umzugehen, sagt er. Nur acht Tänzerpositionen stehen ihm zur Verfügung, mit denen ein Spielplan gestaltet werden muss. Vier Premieren stemmen er und sein Team pro Saison, einen Klassikerabend, ein familientaugliches Märchenballett, ein Kammertanzprojekt und einen Beitrag für die Domfestspiele. Mit Produktionen von „Carmen“ und „Coppelia“ bis zu „Der Nussknacker“ und „Die kleine Meerjungfrau“ hat er Zuschauer ins Haus gelockt – nicht nur am Stammsitz Halberstadt, sondern auch in der Partnerstadt Quedlinburg. Reisen ist da fürs Ensemble Alltag. Mutig geht Arslan nächste Spielzeit „Schwanensee“ in eigener Konzeption an, wagt spartenübergreifend Mozarts „Requiem“, mit Orchester, Sängern, Chor und „seinen“ Tänzern“.
Gegenwärtig stehen sie auch mit Kammertanz abwechselnd an beiden Spielorten auf der Bühne. In „Pandora“ verknüpft Arslan den griechischen Mythos von der gottgeschaffenen Frau und ihrer Büchse voller Übel mit dem christlichen Kodex der Sieben Todsünden. Und will herausfinden, welchen Stellenwert für das 21. Jahrhundert jene moralisierenden Verhaltensvorgaben noch haben. Weiß gefaserte Wände ragen dreiseitig auf, rote Kisten reihen sich davor. Die Tänzer umklammern gläserne Leuchtkästchen – Symbol für menschliche Isoliertheit oder den Leuchteffekt des unglückseligen Urans? Schwarze T-Shirts sind Metapher des Unheils. Pandora muss eine Stunde lang mit ansehen, wie Menschen miteinander umgehen. Als Privatbesitz verteidigen sie die roten Kisten und versuchen sich an Begegnungen, in Angst, Liebe, Lethargie oder Attacke. Dunkel wie Béla Bartóks leidvolle Musik, Rhapsodie, Konzert, Sonate, bleibt manches Bild trotz choreografischer Einfälle und eines engagiert jungen Ensembles. Noch widersetzt sich das 21. Jahrhundert wohl seiner moralischen Bewertung.
Auch in Cottbus werkelt Ballettdirektor Dirk Neumann mit acht Tänzern, dies aber schon seit gut einem Jahrzehnt und mit dementsprechend reicher Erfahrung. Unterstützt von der Intendanz kann er pro Spielzeit zwei Gastchoreografen einladen und hat über die Jahre ein verblüffend vielseitiges Repertoire ohne stilistische Grenzen zusammengestellt. Nicht nur die Tanzfans im Umkreis von Cottbus danken es ihm mit regem Besuch, auch bei Gastspielen dieses einzigen Balletts im Land Brandenburg ist die Resonanz groß. Dass es um personelle Aufstockung der Truppe gehen muss, ist unvermeidlich, soll das Niveau erhalten bleiben. Derzeit behilft sich Neumann für größere Produktionen mit Gasttänzern, die aber nicht unproblematisch zu finden und zu binden sind.
So geschehen auch bei „Alice im Wunderland“ als jüngster Premiere im großen Haus. Torsten Händler, dem Ensemble bereits mehrfach verbunden, hat die Geschichte von Alice, die durch einen Kaninchenbau in die Fremde fällt, dort aberwitzige Bewohner trifft und von der verrückten Herzkönigin um ein Haar geköpft wurde, in einer freien, eigenen Lesart choreografiert. Darin erinnert sich die gealterte Alice an ihre Erlebnisse von einst als eines Traumspiels. Das artistisch wendige Kaninchen lugt bereits unterm Vorhang vor, expediert sie ins Zauberreich der verschlossenen Türen und von dort ins labyrinthische Staunparadies. Eine rauchende Raupe kriecht herab, Spielkartenfiguren umwerben das Mädchen, angetan hat es ihr der nette Herzbube, mit dem sie den zärtlichsten Pas de deux des Abends zeigt und der ihr in der Hölle der als Drag Queen angelegten Herzkönigin beisteht.
Knallig bunt gerät Alices Selbstfindungsshow in Händlers skurriler Version der ausgelebten Fantasie. Eigenkompositionen und Geliehenes unterlegt Steffan Claußner als ganz heutige Musikcollage von Mambo bis zu Yma Sumacs Stimmakrobatik. Die spielfreudige Darstellermannschaft läuft im Raum aus Bild und Klang tänzerisch zu Hochform auf.
Volkmar Draeger