Fotos René Kungnickel
Kritiken

„nussKNACKER“ als inclusive Variante des Balletts „Der Nussknacker“

Auf der Bühne krachen die Nüsse, im Saal die Begeisterung

Die Uraufführung „nussKNACKER“ von Wagner Moreira nach Tschaikowski, arrangiert für Kammerensemble von Hans-Peter Preu, an den Landesbühnen Sachsen, kommt an. Es ist das Ballett zur Weihnachtszeit schlechthin, „Der Nussknacker“ von Peter Tschaikowski nach der Erzählung „Der Nussknacker und der Mäusekönig“ von E.T.A. Hoffmann. Tanzen dann noch, wie zur St. Petersburger Uraufführung, vor 130 Jahren, bis zu 60 Kinder mit, dann steht der Beliebtheit dieses klassischen Balletts nichts im Wege. Aber es geht auch anders. Eine inklusive Tanztheaterproduktion an den Landesbühnen Sachsen ööffnet Augen und Ohren und lässt es kräftig krachen, wenn die Nüsse geknackt werden.

Endlich, nach mehrfachen Verschiebungen feierte nun diese Choreografie von Wagner Moreira zur Musik von Tschaikowski in den Arrangements für acht Musikerinnen und Musiker von Hans-Peter Preu ihre Premiere der Uraufführung. Und nicht nur, weil die Weihnachtszeit längst vorbei ist, nein, auch wegen besonderer Konzeption und Interpretation, beginnt diese „nussKNACKER“ – Interpretation nicht unterm Weihnachtsbaum einer gutbürgerlichen Familie, bei der die Kinder mit Geschenken überhäuft werden. Geschenke, wenn auch ganz anderer Art, gibt es dennoch. Wie im Original geht es auch auf eine Reise, ja sogar eine Traumreise, aber nicht ins Reich der Süßigkeiten, eher in ein Reich der Realitäten, und die sind nicht immer so süß.

Es gibt kein Weihnachtsbaum auf der Bühne von Ralph Zeger. Dafür jede Menge Nüsse, Zelte, Rucksäcke, alle begeben sich auf eine Reise, auf den Wegen sind sie dann zu knacken, diese Nüsse. Kein Weihnachtsbaum, aber eine große, rätselhafte Kugel mit Videoprojektionen menschlicher Gesichter, vor allem ihrer Augen, von Steffen Cieplik.

Ist die Erde eine Supernuss? Ja, vor allem, wen sie sich öffnet. Ihre Halbkugeln wie in einem Traum den Reisenden dieses Radebeuler Ensembles Schutz bieten auf ihren Wegen zu den Erfahrungen ihrer Liebe, des gegenseitigen Respekts und des Umganges miteinander.  Niemand tanzt den Superstar. Der Tanz bringt alle zueinander. Ganz nach dem Motto: Du bist o.k., ich bin o.k., wir sind o.k. Und dies in knapp 90 Minuten, in fantastischen Lichtstimmungen von Stephan Spahn: Party, Traum und Sternenlicht, Aufbruch und Ruhe. Das Licht reicht für alle, im Dunkeln steht niemand! Kein Spitzentanz klassischer Technik und Tradition, aber kraft der Individualitätt aller Tänzerinnen und Tänzer, eben doch Tanz der Spitzenklasse.

Für diese Interpretation wurden auch Gäste eingeladen, die nun gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern der Landesbühnen sich auf den Weg machen, die mitunter ganz schön harten Nüsse des Zusammenlebens kraft des gemeinsamen Tanzes zu knacken.

Zu Gast sind Tänzerinnen und Tänzer der Wiener Dance Company, „Ich bin O.K.“ unter der Leitung von Attila Zanin, – die entsprechend dem inklusiven Anliegen dieser Choreografie sich voll und vehement einbringen mit ihren individuellen Bewegungen des tänzerischen Ausdrucks durch die Vorgaben des Down-Syndroms, Und das kann zu einem Feuerwerk der Fantasie und des Humors werden.

Und da ist die Tänzerin Sophie Hauender, nach dem Studium an der Dresdner Palucca-Hochschule, hat sie den Tanz trotz diagnostizierter Querschnittslähmung nicht aufgegeben. Sie bringt sich ein sowohl vom Rollstuhl aus, als auch, wenn sie ihn verlässt, wenn sie ihn zu einer schwebend wirkenden helfenden Mechanik zu wandeln weiß. Und wenn sie dann im aufrechten Gang in roten Schuhen an Stöcken tanzt, die anderen Tänzerinnen und Tänzer ermutigt sich zu solidarisieren, um dann bewegendes und berührendes Tanzgeschehen zum Tanz der Zuckerfee zu kreieren. Das aber ist weit entfernt von missverstandenem Zuckerguss. Hier wird nichts weggezuckert, hier – vor allem, wenn dann die ganze Kompanie sich aufeinander einlässt – kommt das Empfinden aus der Tiefe seelischer Hingabe. Womit wir dann auch ganz nahe am musikalischen Empfinden der originalen Partitur von Tschaikowski wären: Tanz gegen die Einsamkeit!

Dieses musikalische Empfinden bekommt in den Arrangements von Hans-Peter Preu nicht zuletzt durch die Auswahl der Instrumente, wie u.a.  Klavier, Akkordeon, Gitarren, Saxofone oder Percussion, zunächst zwar ungewöhnlich anmutende Klangvarianten, erweist sich aber letztlich doch nicht so weit entfernt von der musikalischen Grundierung im Geiste Tschaikowskis.

So ist gleich zu Beginn, wenn die Musik noch zugespielt wird, wie aus der Ferne, das Akkordeon präsent, es verbreitet sich so ein gewisser Pariser Charme…, ja klar, die Reise beginnt. Dann kommen Musikerinnen und Musiker mit in das Geschehen, Klang und Tanz mischen sich. So entstehen sichtbar und hörbar so intensive wie poetische Klangbilder. Zudem sind die Arrangements von Hans-Peter Preu in dieser Kammerbesetzung sehr filigran, das ergibt wiederum eine Korrespondenz zur Sensibilität des Tanzes in den vielen unterschiedlichen Facetten. Mitunter klingt auch etwas auf wie Salonmusik. Augenzwinkern mit Musik. Dann kann es schon mal richtig rocken, Breakdance und Hip-Hop grüßen auch. Aber dann auch immer wieder diese Melancholie der Einsamkeit, die sich ja durch das Schaffen Tschaikowskys zieht. Für den Tanz beste Vorgaben.


Ungewöhnlich auch, dass es keine Rollenzuschreibungen für die Tänzerinnen und Tänzer gibt. Alle sind Marie oder Klara, je nach dem, Fritz, der Nussknacker, ein Mäusekönig, eine Zuckerfee, Schneeflocken, Puppen oder der Pate Drosselmeier…Da ist die originale Handlung auf dem ersten Blick scheinbar ganz weit weg, was aber dann doch nicht so ganz stimmt. Denn alle kommen zusammen mit den persönlichen Fassetten ihrer Tanzkünste, jenseits missverstandener Perfektion, beim Grundmotiv dieses Balletts: Um zu sich zu finden, um die zu finden, die mit ihnen gehen, um damit klarzukommen, dass da auch Gefühle und Wünsche sind, von denen man keine Ahnung hatte oder haben wollt.

Dies alles hat ganz und gar nichts damit zu tun, wie sie geworden sind, sich bewegen, sich bewegen lassen: Es zählt der Aufbruch.  Und so kommt auch Humor ins Spiel: Jeder und jede kann mal zeigen, was sie so draufhaben, spanisches Temperament wie in der Auswahl der originalen Nationaltänze.  Ganz attraktiv kann ein Paar zum Klang des arabischen Kaffeegenusses auch mal mit körperlichen Genüssen spielen. Dann wird ein Zelt der Reisenden zum weiten Rock der fürsorglichen Mutter Gigogne unter dem alle Platz und Schutz finden.
Mit großem Augenzwinkern aller Tänzerinnen und Tänzer, die sich sichtlich kraft eigener Talente und Fähigkeiten in diese Erarbeitung einer gemeinsamen Choreografie von Wagner Moreira eingebracht haben, kracht es am Ende richtig los: Alle Nüsse müssen geknackt werden. In jeder findet sich eine Überraschung, ach was, der Abend hat am Ende viele Überraschungen gebracht.  Das ist Theater eben, Tanz, Musik, und Augenblicke schönster Visionen: Ja, wir sind o.k.!
Fazit: Mach Dich auf, immer wieder, der Tanz des Lebens endet nie. Finde Deine Nüsse. Knacke sie, lass Dir gerne dabei helfen, wenn die Kraft allein mal nicht reicht. Und dann bekenne dich zu dem, was drin ist. Was in dir ist, wer du bist und wie du bist. Dann lass es krachen! Tanzen hilft.

Boris Gruhl