One flat thing - reproduced Foto Gregory Batardon
Kritiken

Opernhaus Zürich: Mit Forsythe ins neue Jahrzehnt

The Second Detail, Approximate Sonata und One Flat Thing, reproduced am 11. Januar 2020 im Opernhaus Zürich.

Was für eine Ehre für das Ballett Zürich! Am 30. Dezember feierte William Forsythe seinen runden Geburtstag in Zürich, im Studio, und nach getaner Probenarbeit gab’s Schokoladekuchen mit 70 Kerzen für alle. An der Einführungsmatinée (5. Januar) zeigte sich der Meister in gewohnter Frische und Eloquenz; an der Premiere präsentierte die Compagnie die Früchte ihrer Auseinandersetzung mit diesem Jahrhundert-Choreografen: frisch und brillant.

William Forsythe hat eine spezielle Verbindung zu Zürich. Seit Love Songs (1985) wurden immer wieder Stücke von ihm gezeigt: In the Middle natürlich und Artifact (2008), Quintett und New Sleep, das Stück, das in Ballettdirektor Christian Spuck anno 1987 in Frankfurt den Wunsch erweckte, Tänzer und Choreograf zu werden.

Die Auswahl der Stücke für die Triple Bill 2020 war pragmatisch und präsentiert Werke aus unterschiedlichen Schaffensphasen – allesamt schweizerische Erstaufführungen. Dass alle drei schon mindestens 20 Jahre auf dem Buckel haben, zeigt sich – wie immer bei Forsythe – nicht. Das Gleiche gilt auch für die Musik seines Weggefährten Thom Willems.

Fulminant beginnt der Abend mit The Second Detail (1991), dieser meisterhaften Lektion in Neoklassizismus. Die 13 Tänzer/innen in hellgrauen Trikots von Yumiko Takeshima schlendern auf die Bühne und Jesse Fraser gibt mit einer gedrehten Attitude den Auftakt zu diesem Feuerwerk an schwierigen Schritten, Sprüngen und Formationen, die sich ständig spiegeln und wieder auflösen, um Raum zu schaffen für die Soli. Jeder hat seinen Moment in der Mitte, die Damen auf Spitze, beobachtet nicht nur vom Publikum, sondern auch von den anderen Tänzer/innen, die ab und an auf Stühlen am hinteren Bühnenrand sitzen. Während drei Vierergruppen synchron in akademischen Schrittkombinationen hin und her sausen, getrieben von der pulsierenden Musik, ist sie plötzlich da: Anna Khamzina im weissen Kleid von Issey Miyake, barfuss. Und sie stellt der klassischen Ordnung das Wilde, fast Groteske, entgegen, tanzt ekstatisch, bis sie – Giselle? Isadora? – zu Boden fällt, und Wei Chen das THE-Schild umstösst – DAS Andere? Whatever works!

Die Choreografie lässt sowohl von ihrer komplexen kontrapunktischen Struktur wie auch vom Wettkampfgeist her an Agon von Balanchine denken. Zwei Sitze gebe es im Himmel, witzelte Forsythe so auch an der Matinee, den einen für Gott, den anderen für George Balanchine, und die beiden seien gute Freunde.

Katja Wünsche und Matthew Knight eröffnen Approximate Sonata (in der Pariser Neufassung von 2016). Und – JA! – sie tanzen und kokettieren wunderbar miteinander in diesem «Essay über das Wesen des Pas de deux». Die Balance wird ausgelotet, mit Händen und Füssen experimentiert, sogar Worte werden gewechselt wie beim Proben. Und die drei anderen Paare – jedes auf seine Weise – stehen dem ersten in nichts nach: Rafaelle Queiroz und Jan Casier, Anna Khamzina und Esteban Berlanga, Cohen Aitchison-Dugas und Elena Vostrotina, deren göttliche Beine in einer giftgrünen Jogginghose von Stephen Galloway stecken. Gerade in diesem Werk, in dem der Tanz relativ unabhängig von Thom Willems’ schillernder Soundscape funktioniert, zeigt sich die unabdingbare Qualität eines jeden Tänzers: «Musikalität» – Forsythe betont dies immer wieder, denn in seinem Inneren steckt ja auch ein Musiker, der überdies besessen ist von der Idee des Kontrapunkts.

Der Höhepunkt des Abends ist jedoch das gut dokumentierte Stück mit den 20 Tischen: One Flat Thing, reproduced (2000). Inspiriert von Büchern über Expeditionen zum Südpol, entwirft Forsythe für 14 Tänzer eine hochkomplexe, auf Cues – visuellen und akustischen Einsätzen – basierende Choreografie zwischen, unter und hinter den Tischen. Und man meint, in diesen tatsächlich gefährlich glatte Eisschollen zu sehen. Da muss die «Mannschaft» gut organisiert sein, um am Leben zu bleiben. Und fit – physisch und mental. 900 Cues mussten die Tänzer/innen – «Bewegungsdenker/innen» – speichern. «Ich weiss nicht, wie die Tänzer das lernen», lachte der Maestro an der Matinee. Sie haben es geschafft – und dem begeisterten Publikum einen packenden, die Wahrnehmung anstachelnden Abend geschenkt. William Forsythe – 70 Jahre jung – nahm die Standing Ovations mit einem breiten Grinsen entgegen.

Evelyn Klöti