Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht. Nein, ganz so dramatisch endet der Ballettabend der Pariser Oper nicht. Niklas Ek, kaum erkennbar unterm weißen Schlapphut, schüttet zwar immer wieder einen Eimer Wasser in die Wanne, die im Zentrum der leer geräumten Riesenbühne des Palais Garnier steht. Aber er ist natürlich alles andere als ein alter Besen, der dem Befehl eines „Zauberlehrlings“ gehorcht. Er bringt das Bad nicht zum Überlaufen; sein Bruder inszeniert ja nicht das „Scherzo d’après une ballade de Goethe“ eines gewissen Paul Dukas, sondern den ungleich berühmteren „Boléro“ seines Komponistenkollegen Maurice Ravel. Und da gilt es, einen Schlusspunkt zu setzen, der sich sozusagen „gewaschen“ hat. Der sieht denn auch so aus, wie man es von einem Mats Ek eigentlich erwartet: gänzlich unpathetisch und nachgerade erheiternd in seiner Banalität.
Nach mehrjähriger Schaffenspause ist der über siebzigjährige Mats Ek wieder auf die Bühne zurückgekehrt – nicht als der Tänzer, der zusammen mit Ana Laguna zuletzt altersweise Zusammenspiele erprobte, sondern als einer der eigenwilligsten Choreografen unserer Zeit, der einen bekannte Themen und Tänze neu sehen ließ. „Mats Ek“ nennt sich denn schlicht und simpel das Programm, das gleich dreifach seine Meisterschaft bekräftigt: Erst mit einer Neueinstudierung seiner „Carmen“, die 1992 ursprünglich für das Cullberg Ballett entstand. Und nach der Pause, gleich mit zwei Kreationen: des Duo „Another Place“ mit Aurélie Dupont und Stéphane Bullion als Premierenbesetzung sowie einem „Boléro“ für ein 21-köpfiges, trainingshaft schwarz gekleidetes Ensemble (plus Niklas Ek wie ein Gast aus einer anderen Welt).
Ob der „Boléro“ sich im Repertoire halten kann, muss sich erst noch weisen. Ek hat ihn nach Maßgabe der Ravel-Musik choreografiert: als einen Countdown unterschiedlichster Gruppierungen und Gefühle, die sich miteinander abwechseln, aber ohne das erotische oder politische Spannungspotential, das je nach Interpretation den „Boléro“ von Maurice Béjart noch immer zu einem brisanten Ereignis machen kann. Nicht anders der Pas de deux „Another Place“ zur Sonata in b-Moll von Franz Liszt. Er deckt das ganze Beziehungsspektrum eines Paares ab, zeigt seine Einsamkeit zu zweit, die zeitweilige Kompromissbereitschaft. Zuletzt sogar den gemeinsamen Höhenflug, für das Ek einen Coup de théâtre findet: Für einen Augenblick öffnet sich die Rückwand der Bühne und macht dahinter das traumhaft schöne Foyer de la danse wie eine Fata morgana sichtbar.
Eröffnet wird der Abend mit „Carmen“, zweifellos ein Ballett, das bleiben wird. Ek hört ihre Geschichte aus der Musik heraus, und obwohl Rodion Schtschedrin die Opernvorlage von Georges Bizet suitenartig verkürzt, bleibt hier kein Erzähldetail ausgespart – nicht einmal Micaëla, hier M genannt und einfühlsam von Séverine Westermann verkörpert. Ek zeigt starken Tobak und das nicht nur, weil Carmen ihrem Don José provozierend eine Zigarre verpasst. Eks Choreografie verschweigt nichts, ohne geschwätzig zu werden, und deshalb können alle so verausgaben – und das tun denn auch Amandine Albisson, Florian Magnenet und Hugo Marchand: alles Spitzentänzer, deren Namen man sich merken sollte.
Hartmut Regitz