Sandra Bourdais und Maurus Gauthier in "Der Liebhaber" Alle Fotos Staatsoper Hannover/Ralf Mohr
Kritiken

Lieben über die Angst hinaus

Marco Goeckes Choreografie „Der Liebhaber“ vertieft die  literarische Vorlage von Marguerite Duras

Ungewöhnlich schon, aber außergewöhnlich derzeit eben nicht. Die erste Uraufführung eines Handlungsballetts von Marco Goecke als  künstlerischem Direktor beim Staatsballett in Hannover musste mehrfach verschoben werden. Die Gründe sind bekannt. Nun gibt es Goeckes neueste Kreation online zu erleben. Das ist gut so. Die Zahl der Liebhaber und Liebhaberinnen seines so außergewöhnlichen wie expressiven und dennoch immer auch zutiefst verinnerlichten Tanzstiles dürfte sich erweitern.

Marco Goecke wählt für sein Ballett die Erzählung „Der Liebhaber“ von Marguerite Duras, 1984, im Alter von 70 Jahren verfasst, gern als autobiografischer Text bezeichnet. Es handelt sich aber eher um ein autobiografisches Würfelspiel, eine Mischung aus ganz sicher biografisch konnotierten Wunsch- und Traumbildern, in dem man sich besser zurecht finden kann, wenn man sich zuvor über die Biografie der 1996, im Alter von 82 Jahren verstorbenen Autorin informiert hat. Schreiben bedeute für sie, so Duras, eine Krise zu durchstehen. In der Erzählung der „Liebhaber“ geht es u.a. vor allem darum als 15jährige junge Französin im damaligen Indochina, heute Vietnam, mehrere Krisen zu überwältigen. Da ist die Familie mit der psychisch unzuverlässigen Mutter, dem jüngeren Bruder, der früh sterben wird, dem älteren, der in Spielsucht, Alkohol- und Drogenexzessen untilgbare Schulden anhäuft, zu dem die Mutter aber immer stehen wird. Das vermisst die Fünfzehnjährige Gymnasiastin, gerade in der Zeit des ersten erotischen Erwachens, verunsichert wie auf der Fähre in der Mitte eines unaufhaltbaren Flusses, dessen Strom sich auf das offene Meer zu bewegt. Kein Zurück zum verlassenen Ufer, das andere noch nicht in Sicht.

“Der Liebhaber” Alle Fotos Staatsoper Hannover/Ralf Mohr

Und dann diese schicksalhafte Begegnung mit jenem jungen, aber eben älteren Mann, der ihr beim ersten Anblick verfällt. Und schon treffen zwei aus ihren Familien Flüchtende aufeinander, er will seinen Traditionen wohlhabender chinesischer Vorgaben entkommen, was ihm nicht gelingen wird, sie den ihren. Was ihr insofern möglich ist weil sie nach dem Motto handelt, „Mein Wille geschehe. Ich sage, wann diese „Liebe“ ein Ende hat. Weil ich es will und ich zurück gehe nach Frankreich.”

Als die altgewordene Erzählerin, deren Leben mit Höhen und grausamsten Abgründen, todesnahen Tiefen sich dem Ende nähert, als dieses Leben, dem sie nur entkommen konnte, Kraft jener Erinnerungen, die in der Mitte des Flusses, zwischen den Ufern begannen, dem Ende zugeht, schließt sich ein Kreis: Er, der Liebhaber, dessen Leben an der Seite der für ihn bestimmten Frau nur durch die eigens beschworene Sinnestäuschung, indem er sie im Bild jener jungen Frau auf dem Fluss annimmt, gelingen konnte, ruft sie an. Aus dem fernen China, es sei wie früher, „dass er nie aufhören werde sie zu lieben, dass er sie lieben werde bis zu seinem Tod.“

In Marco Goeckes Choreografie bestimmt der Fluss die genial gestaltete Bühne von Michaela Springer und Marvin Ott im Licht von Udo Haberland. Aus dem nun menschenleeren Raum des Theaters kommt dieser symboltiefe Fluss, fließt über die gesamte Breite der Bühne nach hinten, in die Höhe, eben nicht auf ein Meer des Ertrinkens zu, sondern auf die rettende Imagination der Unendlichkeit des Theaters.

Das Ballett beginnt mit originalen, fernöstlichen Klängen, „Nostalgique Vietnam“. Und da nehmen zunächst die Tänzer aus Hannover, auch mit hörbarem Atem, diese optische und klangliche Verführung an. Sie erkunden ihre Potenziale bewegter Reaktionen der Körper, erhalten durch den eigenen Atem der den Klängen fremder Rhythmen und Sprachfetzen folgt, wie sich scheinbar unaustauschbare kulturelle Selbstverständnisse in der dynamischen Kraft des Tanzes ergänzen können. Im Tanz findet eine Reise nach Innen statt. Was aus den innersten Gründen so nach oben drängt lässt das Fremde zum Eigenen werden.

In der Mitte dieses Flusses, in der Erzählung auf einer Fähre, begegnen sich das Mädchen und der Mann.
Die Musik hat sich gewandelt. „La Mer“ von Claude Debussy assoziiert die Einsamkeit der Weite, aber auch musikalische Erinnerungen an das Erwachen der Körperlichkeit eines Menschen noch fernab aller Möglichkeiten lebensordnender Strukturen.

Und dann das Mädchen und der Mann, Sandra Bourdais und Maurus Gauthier, keine Verfremdungen in Sachen Herkunft oder Alter, aber diese immer wieder so berührenden, blitzartigen Zuckungen der Körper in den Situationen des Erwachens, der gegenseitigen Wahrnehmungen und daraus sich entwickelnder Wünsche, Sehnsüchte, Erfahrungen und Entscheidungen. Der Tanz als Entdeckung der Nähe, mit der Kraft ausbrechender Bewegungen aus den Landschaften der Körper. Marco Goeckes Tanz als Aufblitzen auch schon wieder verlöschender Kommunikation der Körper bringt so etwas wie die Energie dessen, was nicht aussprechbar ist, hinter den Worten der Erinnerungserzählung, zum Ausdruck.

Und wenn dann in wildem Ausbruch des Tanzes die Gruppe in bestialisches Lachen ausbricht, dann mutet dies an wie eine Szene des kommentierenden Chores in der antiken Tragödie.

Und mit einer Tänzerin wie Sandra Bourdais und Maurus Gauthier gewinnen Goeckes tänzerische Symbole der Ekstase mit den Bildern der Fluchten in die fremden Körper immer wieder Momente nachvollziehbarer Realitäten, wenn auch fern von allem Realismus falsch verstandenen Tanztheaters.

Hin und wieder blitzt auch Humor auf, etwa bei verschämten Berührungen, immer aber im Schutz der Musikalität.

So erhalten in der klingenden Umhüllung der Musik des Adagios aus Maurice Ravels Klavierkonzert vor allem auch Ana Paula Carmago als kühle Mutter, Rosario Guerra als älterer und Giovanni Visione als jüngerer Bruder fernab aller möglicher Verteufelungen jene für diese Kreation so typischen Züge der Unausweichlichkeit ihrer existenziellen Wege, also Tragik von berührender Tiefe.

Goecke fällt keine Urteile über diese „Familie aus Stein“, wie sie die Autorin nennt. Er gibt den Menschen ihre individuellen Freiheiten der Bewegung in der Abstraktion ihres Tanzes.

Wenn dann zu den Klängen von „D’un soir triste“ der so jung verstorbenen Komponistin Lili Boulanger sich unüberhörbar Richard Wagners Sehnsucht nach dem „Liebestod“ vernehmen lässt, geht dieser Tanz in der Mitte des Flusses zu Ende. Der Mann folgt seinem Vater, äußerlich, im Innern lässt sich die Erfahrung uferloser Weite nicht eindämmen.

Für das Mädchen deutet sich die Rückkehr nach Paris an, losgesagt von der Mutter, angelockt von fernen Klängen des Vergnügens, kaum zu vernehmen, eher zu spüren, die so wunderbar rauchige, spröde, ganz sicher auch von weiten Erinnerungslandschaften gezeichnete Stimme der Zizi Jeanmarie. Und wenn dazu ein Flowerboy tanzt, der für Momente die Grenzen der Konventionen zu durchbrechen vermag, dann ist das Mädchen, jetzt endgültig zur Frau geworden, angekommen in Paris. Melancholische Walzer von Frédéric Chopin lassen einen Hauch von Ruhe aufkommen, endgültige Beruhigung aber nicht. Die Bilder des Tanzes, „von unerträglicher Pracht“, hören nicht auf und die Versuche, die Liebe zu lieben, auch nicht. Aber auch die Angst, sich in der Mitte dieses Lebensflusses zu verlieren lässt sich nicht endgültig stillen.

Wenn Marguerite Duras vom, „Lieben über die Angst hinaus“, spricht dann gelingt dies in der Bildsprache tanzender Körper mit dieser Kreation von Marco Goecke und einer phänomenal aufgestellten Ballettkompanie vor allem dadurch, dass hier nichts von allen diesen Assoziationen bebildernd gezeigt wird. Die Kunst dieses Tanzes besteht kraft der individuellen Ausstrahlung aller Tänzerinnen und Tänzer darin in einer Vielzahl von Facetten eher diese verflixte Suche nach der Kraft intimer Nähe spürbar zu machen.

Und wie dies Oliver T- Becker als Lifeproducer mit Hans-Peter Eckardt, Eric Lehmann, Malte Unger und Sara Mautner an den Kameras an den Bildschirmen erlebbar machen verdient wahrhaft hohe Beachtung.

Boris Gruhl