Leben mit Ravel –
Manchmal sind nicht wir es, die sich die Klassiker aussuchen: Esoteriker behaupten nicht selten, dass es auch umgekehrt passiert: dass es die Kompositionen sind, die ihre Liebhaber suchen. So erging es mir mit Maurice Ravel und seinen Werken: Im Gymnasium war es unser Musiklehrer, der mich und meine Schulkameraden zu unserem Glück (Ravels Musik) zwang, als wir nur Ohren für die „Beatles“ und die „Stones“ hatten. Er studierte „Daphnis und Chloé“ mit dem Schulorchester ein und steckte seine Primaner mit seiner Begeisterung für Ravel an, zumal er das Ballett, seinen Inhalt und seine musikalische Strukturen einleuchtend, witzig, spannend und mitreißend zu erklären wusste.
Ich war 16 und arbeitete nach der Schule als Bote und Laufbursche für einen Notar und Steuerberater. Von meinem ersten verdienten Geld kaufte ich mir ein Tonbandgerät, das ich natürlich sofort ausprobieren wollte. Ich schloss das Gerät an unser Radio an, um testweise eine Sendung aufzunehmen. In diesem Augenblick ertönten die rauschhaften Klänge von Ravels „choreographischer Sinfonie“, DAPHNIS UND CHLOÉ, aus dem Äther, und ich lauschte gebannt und fasziniert. Ich nahm das ganze „musikalische Fresco“ (so Ravel über sein Ballett) auf. Da ich zufälligerweise die richtigen Knöpfe des Tonbandgerätes gedrückt hatte, konnte ich diese Musik x-beliebig wiederholen und mir das Werk allmählich eintrichtern und einprägen.
Meine Mutter war im „Reader´s Digest“-Schallplatten-Club, und als uns wieder das Abonnement traf und ich die Auswahl zur Bestellung übernehmen sollte, entdeckte ich die „Daphnis-und-Chloé“-Gesamtaufnahme des London-Symphonie-Orchestra unter der Leitung von Pierre Monteux, der dieses Werk am 8. Juni 1912 im Pariser Théâtre du Châtelet uraufgeführt hatte. Diese Platte habe ich dann so oft gehört, bis auf der Platte keine Rillen mehr waren (Jahre später habe ich mir die Aufnahme dann wieder besorgt, als sie auf CD wieder-veröffentlicht wurde).
So entstand in meinem Kopf ganz allmählich und peu-à-peu ein musikalisches Weltbild französischer Musik, in dem Ravels Kompositionen zur Plattform wurden, von der aus ich sehr leicht Brücken schlagen konnte zum Verständnis von Bizet und Debussy, zu Gounod und Massenet, zu Camille Saint-Saens und Poulenc. Während meiner Studentenzeit in München brachte John Cranko mit dem Ballett der Bayerischen Staatsoper seine legendäre DAPHNIS-Inszenierung heraus, die für die damalige Zeit schrill, modern und hocherotisch war, und die den Geist der 68iger Generation atmete. Da gab es keine klassischen Ballett-Trickots: Mädchen in aufreizenden Bikinis und Jungs in bunten Slips tummelten und liebten sich am leuchtend gelben Sandstrand vor blauem Meer. Crankos einzigartige Pas-de-deux-Kunst feierte Triumphe. Ich verpasste keine einzige Vorstellung dieses Genie-Streichs und bedauere es noch heute, dass dieses Meisterwerk von Cranko weder filmisch noch choreologisch aufgezeichnet und mithin verloren gegangen ist.
Meine nächste Wiederbegegnung mit Ravel hatte ich dann als Dramaturg der Frankfurter Oper, wo wir George Balanchines „La Valse“-Ballett im Repertoire hatten, und wo John Neumeier mit seiner absolut revolutionären „Daphnis-und-Chloé“-Interpretation der Aufführungs-Konvention die Krone aufsetzte. Spätestens diese kongeniale Inszenierung machte mich endgültig zum glühenden Ravel-Fan. Als Dramaturg der Deutschen Oper Berlin gelang es mir dann, den Ballettchef Gert Reinholm zu einem abendfüllenden Ravel-Abend zu überreden, was nicht leicht war, da Reinholm ein leidenschaftlicher Verfechter von (auch musikalisch) gemischten Programmen war. Vier Ballette von nur einem Komponisten befand er zunächst als riskant und eintönig. Aber die Verschiedenheit der vier Gast-Choreographien (von Hans van Manen für die zweite „Daphnis-und-Chloe“-Suite, von Béjart für „Boléro“, von Balanchine für „La Valse“ und von Kurt Jooss für die „Pavane auf den Tod der Infantin“) war wie eine Zeitreise durch die Ballettgeschichte. Es wurde der wertvollste und beste Ballettabend der Deutschen Oper Berlin überhaupt.
Als ich dann schließlich selber Ballettdirektor (in München) wurde, wollte ich diesen Berliner Wahnsinns-Erfolg natürlich auch für die Bayerische Staatsoper wiederholen, aber einige der Meister-Choreographien waren dem Verwaltungs-Direktor zu teuer. Mein Wunsch, die alte Cranko-Inszenierung zu restaurieren, scheiterte am Erinnerungsvermögen der einstigen Mitwirkenden, und so bekamen Ray Barra für „Alborada del Grazioso“ und Ferenc Barbay für DAPHNIS neue Chancen zu ihren originellen und restlos geglückten Choreographien. Aber der Sieger des Abends blieb Maurice Ravel: die Durchschlagskraft seiner betörenden musikalischen Genie-Streiche bescherte den Münchener Ballettomanen Wonnen des Glücks und der Ekstase und dem Münchener Nationaltheater volle Kassen. Ravel ist immer eine Reise zu den Paradiesen der Ballettkunst wert: für Ballettschöpfer lohnt sich auch die Auseinandersetzung mit seinen Klavier- und Kammermusiken, die den Choreographen ungeahnte tänzerische Möglichkeiten eröffnen!
Edmund Gleede
KLEINE TANZGESCHICHTEN
Der etwas andere Ballett-Konzert-Führer in Etappen
Von Edmund Gleede
„Daphnis und Chloé“, Ballett in 3 Bildern (1. Akt: Spieldauer 60 Minuten) von Michael Fokine (Choreographie) und Maurice Ravel (Musik). Uraufführung am 8. Juni 1912 durch die Ballets Russes im Théatre du Chatelet in Paris (mit Serge Diaghilew als Produktionsdramaturg).
Daphnis et Chloé Chorégraphie Benjamin Millepied , Musique (version intégrale) Maurice Ravel , Scénographie Daniel Buren , Lumières Madjid Hakimi , Costumes Holly Hynes , Hervé Moreau (Daphnis), Aurélie Dupont (Chloé), Alessio Carbone (Dorcon), Eleonora Abbagnato (Lyceion), François Alu (Bryaxis ), et le Corps de Ballet , Chœur et Orchestre de l’Opéra national de Paris, Direction musicale Philippe Jordan, Chef du Choeur Patrick Marie Aubert, Création pour l’opéra de Paris 2014 |
Photo of original cast members Michael Somes (Daphnis) and Violetta Elvin (Lykanion) Photo ©Royal Opera House/Hulton Deutsch
Dieses einaktige Handlungsballett, das auf dem Märchen des griechischen Dichters Longus basiert und von Ravel als „symphonie choréographique“ bezeichnet wird, gilt als Ravels bestes, größtes und schönstes Meisterwerk und handelt von der Liebe zwischen dem Schäfer Daphnis und seiner Geliebten Chloé. Diese Liebe wird mehreren Prüfungen unterzogen und Gefahren, bzw. Gefährdungen ausgesetzt: Zum einen versucht ein Rivale des Daphnis, der Kuhhirte Dorkon, Chloé zu verführen und ihrem Schäfer abspenstig zu machen. Zum anderen wird Chloé von Piraten entführt. Daphnis bittet den Gott Pan um Hilfe, der Chloé vor den Piraten rettet und sie zu Daphnis zurückbringt. Das Stück endet mit dem Happy End der Verlobung zwischen Daphnis und Chloé und einem großen Freudenfest. Das Thema des Stücks ist zeitlos: Gefährdete und bedrohte Liebe. Folglich kann dieses Ballett überall und zu allen Zeiten spielen, wenngleich das Kolorit dieser Musik sich auf ein erträumtes bukolisches Griechenland der Antike bezieht, in dem Nymphen und Faune, Hirten und Schäferinnen, Satyrn und Bacchantinnen miteinander tanzen, spielen und sich lieben.
Vordergründig handelt diese Musik von einem erotischen Traum in exotischer, altgriechischer Kulisse, die schon bei der Uraufführung durch den Bühnenbildner Léon Bakst zu einer üppigen, sinnlichen, südlichen Landschaftsphantasie stilisiert wurde. Seither ist es Tradition bei diesem Ballett, daß sich hier die Fantasie der Bühnenbildner, Theatermaler und Lichtdesigner austoben und selbstverwirklichen darf und soll. Aus dem „Land-der-Sehnsucht-mit-der Seele-Suchen“ wurde in den bedeutendsten Inszenierungen des Werkes durch John Cranko (1968 in München) und John Neumeier (1972 in Frankfurt/Main) eine mit Urlaubs-Erwartungen, Tourismus-Assoziationen und Sehnsucht nach Freiheit geschwängerte, traumhafte Bildungsreise, die quasi im Pergamon-Museum zwischen griechischen Statuen beginnt und auf dem weißen Sandstrand vor tiefblauem Meer in Mykonos, Rhodos oder Lesbos als Pas-de-deux mit einer Urlaubs-Liebe endet. Das klassische Klischée-Griechenland der Antike, das sich Michael Fokine aus antiken Plastiken, Tempelfriesen, Marmorgöttern und Vasenbildern zu einem getanzten Traum von „Freier Liebe“ zusammencollagierte, wurde bei Cranko gewissermaßen zur 68iger „Beach-Party“ in modernen Badehosen vor umgekippten Ruderbooten unter der sengenden Sonne des Südens. Mit anderen Worten: Dieses Ballett ist an Interpretations-Möglichkeiten das komplexeste und reichste des gesamten klassisch-romantischen Ballett-Repertoires. Da es sich um einen Ein-Akter handelt, bietet das Stück dramaturgische Kombinations-Möglichkeiten von hohem Reiz: Entweder man kombiniert es mit anderen Balletten von Ravel z.B. mit „La Valse“, „Bolero“ und „Rhapsodie Espagnole“, (so war es am Münchner National-Theater) oder mit einem romantischen Märchen-Einakter ähnlicher „Bau-Art“ und Dauer, z.B. mit Strawinskys „Feuervogel“ (so war es an der Wiener Staatsoper), oder mit Ravels Opern-Einakter „L ´heure espagnole“ (so war es an der Hamburgischen Staatsoper unter Rolf Liebermann). Besonders reizvoll ist auch eine thematisch-inhaltliche Variante, nämlich die Kombination mit Jacques Offenbachs Operetten-Einakter „Daphnis und Chloé“: Entweder vorher als quasi theatralische „Inhalts-Angabe“, oder als „Satyr-Spiel“, d.h. als heiteres Nachspiel. Der vom Komponisten vorgeschriebene Chor wird für Theater, deren Ballett-Abende am Chor-freien Tag stattfinden, entweder vom Tonband eingespielt oder life von der Orgel.
– Fortsetzung folgt – Demnächst hier: Boléro, La Valse und Ma mère l’oye.