Verwirrend und bilderreich
von Volkmar DRAEGER
Nein, ein reines Erzählballett ist es nicht, was Jörg Mannes in Magdeburg unter dem Titel „Vincent“ uraufgeführt hat. Wer das erwartet, liegt falsch. Vielmehr geht es dem Choreografen darum, van Goghs künstlerischem Antrieb, seiner fast panisch getriebenen Suche nach dem eigenen malerischen Ausdruck auf die Spur zu kommen. „In der Farbe das Leben suchen“, so wird im Programmheft van Gogh zitiert. Dass es da nicht ohne Anklänge an markante Lebensstationen des seinerzeit überwiegend unverstandenen Genius abgeht, liegt auf der Hand. So pendelt die Zwei-Stunden-Produktion zwischen eher abstrakt sinfonischen Passagen und leichter greifbaren Abschnitten. In neun Szenen, die für das Verständnis hilfreiche Überschriften tragen, gliedert Mannes das Geschehen. Für Nicht-van-Gogh-Spezialisten dennoch starker Tobak.
Wenn der Vorhang sich hebt, stehen weiß Gewandete mit dem Rücken zum Zuschauer und scheinbar kopflos auf weißem Tuch in einem matt glitzernden Sternenraum. Als sie sich umwenden und den gesenkten Kopf heben, werden Menschen daraus. Das Tuch wird gerafft, ein Tänzer, Joshua Hunt, verharrt darauf, bis man ihm das Tuch, sprich den Boden unter den Füßen fortzieht. So beginnt Vincents Unbehaustsein, so seine Kunst. Sehr stilisiert, sehr abstrahiert geben sich beide im Stück. Was Mannes etwa „Flucht vor den Kartoffelessern“ nennt, bezieht sich auf ein Gemälde von 1885, das einfachen Menschen und ihrer Hände Arbeit ein etwas sprödes Denkmal setzt. Im Stück ballen sich eher feindlich wirkende schwarze Gestalten, deren Funkelbeleuchtung ein Mann immer wieder auslenkt und die darauf gestisch reagieren.
Weil nach Auffassung des Choreografen jeder van Gogh sein, dessen Probleme durchmachen kann, gibt es auch keine klare Personenzuordnung, was dem Verständnis nicht eben zuträglicher ist. Alle Darsteller der Titelgestalt sind weiß gekleidet und wechseln einander ständig ab; lediglich van Goghs Bruder Theo und ein Paul, der wohl Gauguin meint, beide mit blassfarbigem Sakko über weißem Grundkostüm, sind namentlich ausgewiesen, ebenso wie auch Theos Frau Johanna sowie mit Sien und Rachel zwei Frauen um Vincent. Ein nicht sinnträchtig genutztes Gerüst, das an Glen Tetleys „Pierrot lunaire“ erinnert, taucht mehrfach auf; eine Szene mit Leuchtstäben veranschaulicht einprägsam van Goghs fast manische Experimente mit Farben.
Nach der Pause nimmt Jörg Mannes’ Erzählweise an Anschaulichkeit Fahrt auf. Fahrbare Rahmen mit Farbfolien mögen für die Kunstwelt stehen, die er verachtet, weil sie ihn nicht einlässt. Eine Leinwand wie aus geschredderten Streifen fährt herab, über ihr bilden einzelne Scheinwerfer eine leuchtend gelbe Sonne. Schnitter mit Sensen formieren sich zu Bauernpaaren; metallene Betten weisen augenscheinlich auf van Goghs Krankenhausaufenthalte hin. Sein besinnungslos abgeschnittenes Ohr reicht er der Geliebten. Das zerquälte Duett mit ihr gehört zu den tänzerischen Höhepunkten des Abends. Als riesig totwelke Sonnenblumen herabgelassen werden, die Sonne nur noch kalt funkelt, umreisst das seine desolate Lebenslage.
Es sind die Bilder, wie sie Jörg Mannes unstreitig gelingen, die „Vincent“ zu einer eindrücklichen Produktion machen. Sein bestens trainiertes Ensemble stattet er dazu mit einem immensen Materialaufwand an tanztechnischen Finessen, ganzkörperlicher Geschmeidigkeit und akrobatischen Einlagen aus, was die Zusehfreude kaum je abebben lässt. Wenn trotzdem Joshua Hunt in seiner Präzision und Prägnanz als einer der vielen Vincents namentlich erwähnt werden soll, steht er inmitten anderer beachtlicher Leistungen. Zum runden Eindruck dieser Inszenierung, mit Florian Parbs Raum und Louise Flanagans Kostümen, trägt maßgeblich die Musikauswahl bei: sanfte bis dramatische Kompositionen von Ives, Sibelius, Webern, Pärt, Fauré, Sanit-Saëns, Rachmaninow und Barber steuern ihre Gefühlslagen bei, unter Svetoslav Borisov von der Magdeburgischen Philharmonie stilvoll interpretiert.
Zwei Tote liegen am Ende auf der Szene, vielleicht Vincent und sein Bruder Theo. Sonnenblumen, wie van Gogh sie so unvergleichlich auf die Leinwand bannte, fahren im Video auf das Publikum zu, werden größer, geben den Blick auf eine gelbliche Erde frei. Ihr mag zukünftig entspringen, was dem unglücklichen Niederländer am Herzen lag: eine frei sich entfaltende, in Malweise und Farbigkeit ganz individuell fassbare Natur.