„Der Schneesturm“ nach Alexander Puschkins Erzählung als choreografische Uraufführung zur Eröffnung der Ballettfestwoche beim Bayerischen Staatsballett setzt ein programmatisches Zeichen. Was hier nun online, wie auch sonst derzeit, im dreißigsten Jahr des Bestehens einer der renommiertesten Ballettkompanien zu erleben ist, hinterlässt ganz und gar nicht den Eindruck einer Notlösung für Fans am heimischen Bildschirm.
Ja sicher, Andrey Kaydanowskiy als junger Hauschoreograf hätte seine erste Uraufführung eines großen Handlungsballetts sicher auch sehr gerne life erlebt. Nun hat er sich dennoch mit großem Engagement darauf eingelassen, seiner Choreografie mit einfühlsamer Kunst der Kraft so bewegender wie berührender Bilder über die so unendlichen Weiten der Wahrnehmungen in beeindruckender Ästhetik lebendiger Empfindungskraft zu vermitteln.
In Puschkins Erzählung ist die junge Marja aus wohlhabendem Elternhaus in den Fähnrich Vladimir verliebt. Er kommt aus wesentlich ärmeren Verhältnissen, Marjas Eltern lehnen ihn ab. Die Liebenden planen ihre Flucht samt heimlicher Vermählung.
In der Fluchtnacht bricht ein gewaltiger Schneesturm aus, Vladimir erreicht die Kirche nicht, in tragischer Verwechslung wird in der Dunkelheit Marja vom Priester mit Burmin getraut, der zufällig an der Kirche vorbei irrt, den man in der Finsternis des Sturmes für Vladimir hält.
Als er die Kirche erreicht ist die Tür verschlossen. Er schließt sich Soldaten an, zieht in den Krieg und fällt in einer Schlacht. Eine bittere Ahnung solcher Art überfiel Marja in einem Alptraum vor der Flucht in den Sturm.
Die bittere Wahrheit erfährt Marja aber erst, als ihre nunmehr verarmten Eltern der Hochzeit zustimmen wollen und Vladimirs Eltern aufsuchen.


Später, auf einem Fest heimkehrender Soldaten, gibt sich Marja einsam ihrer Trauer hin. Sie begegnet hier eben jenem Burmin, mit dem sie verheiratet ist seit der Verwechslung in jener Schneesturmnacht. Diese Begegnung, die Wahrnehmung der Ringe, löst nun einen regelrechten, seelischen Schneesturm der Erinnerungen aus. Auch an jenen „verbrecherischen Streich“, dem Burmin damals kaum Bedeutung zumaß, und der auch längst die Hoffnung aufgegeben hatte, jene Frau zu finden, die er nun in seiner Erinnerung ja „so grausam verhöhnt“ hatte. In der Erzählung gibt sich Marja zu erkennen, sie ergreift seine Hand, er erbleicht, wirft sich ihr zu Füßen.
Im Ballett von Andrej Kaydanowskiy überkommt Marja allerdings eine verstörende Ahnung, die Andeutung einer Auflösung wie bei Puschkin gibt es hier nicht, ein Schneesturm bricht erneut über sie herein.
Und eigentlich kämpfen sich die Menschen in diesem spannenden und immer wieder mit neuen Assoziationsangeboten so vielschichtigem Handlungsballett, dem allerdings auch keine typische geradlinige Erzählweise eigen ist, andauernd durch Lebensstürme, die so eisig und unvorhersehbar sein können wie eben jener Schneesturm des Titels.
Die choreografische Erzählweise der Handlung mischt die Ebenen der Wahrnehmungen, mitunter wie in schwebendem Zug durch die Zeiten, um letztlich ohne vordergründige Art der Aktualisierung doch bei gegenwärtigen Erfahrungen ankommen zu können.

Was zunächst optisch wie eine schwebende Wahrnehmung über ausschwingenden Klangflächen beginnt, eben jenem Haus der Eltern Marjas, auf der genialen Bühne von Karoline Hogl als zerbrechliche Konstruktion leuchtender Lichtlinien, vermag auch den Schutz für den Tanz der Liebenden, Marja und Vladimir, auf spiegelnder Fläche zerbrechlicher Unwirklichkeit vorzutäuschen.
Jener Schneesturm, jenes gewaltige, den Kräften der Natur geschuldete Ereignis nicht zu berechnender, schon gar nicht zu brechender Unvorhersehbarkeiten, kleiner menschlicher und großer universeller Existenzen, ist ja von Beginn an wie ein Spielzeug einer Schneekugel als kindhafter Erinnerung in Marjas Hand.

Marjas Weg in den Sturm führt in eine Verirrung, Vladimirs Weg in den Tod. Kaydanowskiys Anliegen, in seiner Art der narrativen Interpretation von Puschkins Erzählung, Menschen immer wieder in Situationen existenzieller Unvorhersehbarkeiten zu begleiten, bezieht nicht zuletzt auch immer wieder Kraft aus Erinnerungen. So hier eben jener so innige wie aber auch kraftvolle Pas de deux Marjas und Vladimirs in der Hoffnung allen Widrigkeiten zu entkommen durch eine Flucht in die Weiten jener Fantasiewelten der Sehnsucht, wie sie selbst bei vorherrschender Dunkelheit der Bühnen aufscheinen in den freundlichen Wolkenbildern des Surrealismus eines René Magritte.
Dazu passt auch vorzüglich, wie Arthur Arbesser zunächst im ersten Teil des Balletts die Menschen eher formal und streng einkleidet um dann, mit stärkeren Bezügen zur Gegenwart, den fröhlichen Aufbruch der aus dem Krieg zurück gekommenen jungen Männer, im Tanz mit ihren Partnerinnen, mit beinahe lässiger Leichtigkeit sichtbar zu machen.
Und hier nun, wenn der Tanz, wie es der Choreograf selbst sagt, zu einer „Sprache des Glücks“ werden kann, mag der Hintergrund, dem man entkommen ist, noch so unglücklich sein, kehrt eben auch jener Burmin aus eben diesem Krieg zurück, in dem Vladimir fiel.


In einem Pas de deux mit Marja werden Erinnerungen wahrnehmbar, als hielte sie ihn für Vladimir und bei ihm werden ganz ferne, längst verdrängte Erinnerungen wach.
Das Ganze nun in einem von Wimpeln geschmückten Raum mit kleiner Bühne in vielleicht assoziativer Erinnerung an die Ästhetik staatlicher Kulturhäuser einer untergegangenen Sowjetunion, wo man sich ja auch so sicher fühlte, für immer, aus allen Schneestürmen, siegreich hervorgegangen zu sein. Die Opfer allerdings zählen nicht. Dazu kann diese Choreografie mit einer starken, beindruckenden Szene aufwarten. Die von Osiel Gouneo grandios getanzte Figur des Belkin gibt es bei Puschkin nicht. Kaydanowskiy hat sie erfunden. Eine Art Clown, ein Theatermacher, einer, der die Verletzten, an Krücken und in Rollstühlen auf die Bretter bringt. Man will das nicht sehen, Belkins Erinnerungen werden draußen bleiben, vor der Tür.
Aber jetzt ist auch die Tür geöffnet für die Erinnerungen in einer rasanten Rückblende. Da fügt sich, selbst bei angedeutetem Hollywood-Sound, kein Happy End. Schon fegt wieder ein Schneesturm durch die geöffnete Tür. Marja hält ihre Schneekugel in der Hand. Aber was war, was kommen wird, das haben sowohl sie, wie auch die Eltern, Vladimir, Burmin, ja sogar Belkin und die jungen, so fröhlich unbeschwerten Tänzerinnen und Tänzer in kaum anbrechenden und schon wieder abbrechenden Glücksmomenten nicht in den Händen.
Und so wie diese Choreografie des zeitgenössischen Tanzes dessen kraftvolle Präsenz sich durchaus den Techniken klassischer Traditionen verdankt, mit so wunderbaren Protagonisten wie Ksenia Ryzhkova als Marja, Jonah Cook als Vladimir, Jinhao Zhang als Burmin und Osiel Guoneo als Belkin, weiteren Tänzerinnen und Tänzern in kleineren Rollen, einer Schneesturm-Crew, Ballgästen, Soldaten, Kriegsrückkehrern, versehrten und unversehrten, einer ganzen Dorfgemeinschaft, einen durchaus nicht immer eisigen Sturm der Emotionen entfacht, so vor allem auch die dazu uraufgeführte Komposition von Lorenz Dangel.
Bei allen Anstandsregeln, life vom Bayerischen Staatsorchester unter Gavin Sutherland musiziert, im Zusammenklang mit Soundzuspielungen, gibt es ein Mosaik der Klänge als Wanderung durch Zeiten und Erinnerungen vergessener oder verdrängter Ereignisse.
Und angekommen in der Gegenwart, nicht zuletzt eben auch in jener einzig im Onlineformat zu erlebenden Aufführung, erweist sich ein Kunstwerk wie eine solche Choreografie in der Kraft des Tanzes, der Musikalität und der Assoziationsweite der Bilder, eben doch nicht wie ein eisiger Sturm der Vernichtung, sondern eben vor allem wie ein Aufscheinen hoffnungsvoller Horizonte nach einem gegenwärtigen Sturm unausweichlicher Erfahrungen, selbst denen des Todes.
Boris Gruhl