EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser,
jedes Jahr vor der Weihnacht rollt der „Nussknacker“-Zug wieder in voller Fahrt, springen noch rechtzeitig allerlei Trittbrettfahrer mit auf. Diesmal ist das auch eine HipHop-Version reloaded aus Schweden live und, wen wundert das, eine Neuproduktion aus den Disney-Studios. „Der Nussknacker und die vier Reiche“ hat nicht viel mit der titelgebenden Figur zu tun, vielmehr holt der Film die Geschichte in eine jugendgemäße Gegenwart. Gigantische Tricks werden aufgeboten, um Claras Heldentat als Retterin des Fantasiereichs ihrer verstorbenen Königin-Mutter glänzen zu lassen.Lasse Hallström hat mit einem Staraufgebot gedreht: Helen Mirren, Keira Kneightly, Morgan Freeman; Gustavo Dudamel dirigiert das Philharmonia Orchestra London, Lang Lang hat die Klavierpassagen eingespielt, Andrea Boccelli singt Neukompositionen – und Misty Copeland darf mit Sergei Polunin zum Abspann tanzen. Gut 20 Prozent der Tschaikowski-Partitur fließen in den Score ein. Immerhin tritt auch ein Nussknacker auf, der hier Hauptmann Hoffmann heißt, Claras so fescher wie sympathischer Verteidiger ist – und mutigerweise black. Vielleicht liegt der Film sogar näher bei E.T.A. Hoffmanns gespenstischer Vorlage als das liebliche Festtags-Ballett. Ich gestehe jedenfalls, mich 90 Minuten lang gut unterhalten zu haben.
Das wirft auch für den Theaterbereich die Frage nach dem Umgang mit den Erbeklassikern auf. Zwei Tendenzen sind da sichtbar: eine zur Hypertrophierung, die andere zur Minimierung. Vor Jahren tourte eine chinesische „Schwanensee“-Produktion, in der als Höhepunkt die Ballerina auf dem muskelprallen Oberarm ihres Partners Spitzentanz vollführte:ein bewundernswerter zirzensischer Effekt, mehr nicht. Abgesehen vom Gastspiel diverser russischer Staats- und Nationalballette mit Tschaikowski-Klassikern, preist die Werbung derzeit den „größten ‚Schwanensee‘ der Welt“ an, wiederum aus China und mit 48 Schwänen! Welchen künstlerischen Zugewinn das bringt, außer dass man dann Schwäne bis zur Brandmauer der Bühne sieht, ist fraglich. Es erinnert mehr an die berühmte, im Friedrichstadt-Palast jedesmal applausumtoste Revue-Girlreihe als perfekte Multiplikation einer Einzeltänzerin.
Stichwort Minimierung. Gewachsener Bürgerstolz auch in mittleren und kleinen Städten erwartet vom lokalen Theater die Inszenierung repräsentativer Klassiker. Die Choreografen stellt das vor die Pein, mit zehn oder zwölf Tänzerstellen eine eigene Lesart der Stücke, etwa des „Nussknackers“, zu entwickeln. Man erinnert sich da zum Auffüllen der Szene an ein Zuviel an kunstwilligen Komparsen oder den Übereinsatz von niedlichen Purzelchen aus dem Kinderballett des Hauses. Man erinnert sich aber auch an gelungene Adaptionen, die zwar bescheidenen Festglanz an die Zuschauer bringen, aber dennoch ihre Herzen erreichen. Sie alle, ob überzeugend oder nicht, eint eines: Zumindest der „Nussknacker“ scheint nicht totzukriegen – welch Kompliment für den Komponisten! Andererseits ist der Wunsch der Zuschauer auch in kleinen Städten nach Teilhabe am großen Erbe verständlich, und das setzt die Theaterleute eben in die Pflicht, nach vertretbaren, vielleicht sogar pfiffigen inszenatorischen Lösungen des Problems Erbe zu fahnden. So wird es wohl auch weiterhin heißen: Und zur nächsten Weihnacht wieder – „Der Nussknacker“.
Frohe Weihnachten und auf ein neues inspirierendes und erfolgreiches Jahr, wünscht Ihr Dance for You Team!
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