Liebe Leserinnen und Leser,
strahlend junge Gesichter, gertenschlanke, wohlproportionierte Körper, technisch makellose Posen und Sprünge – so stellen sie sich auch in unserer diesjährigen Septemberausgabe vor, die Studentinnen und Studenten nationaler und internationaler Ballettschulen. Traditionsgemäß berichten wir anfangs des Herbstes von ihren Abschlussveranstaltungen, die zugleich Bilanz eines verflossenen Ausbildungsjahres ziehen. Galas heißen sie, wie unsere Korrespondenten bestätigen, durchaus zurecht. Auch in anderer Hinsicht sind diese Veranstaltungen bemerkenswert. Zeigen sie doch, wie international die Studentenschaft ist und folglich die Kompanien dieser Welt sind. Der Tanz kennt keine nationalen oder ethnischen Grenzen und darf somit als Vorbild auch für andere Lebens- und Arbeitsbereiche gelten.
Doch ganz so rosig ist das Bild dann doch nicht. Mittlerweile machen Tänzerinnen und Tänzer aus Brasilien und Japan schon bei Wettbewerben vor, wie klassischer Tanz geht, und sind aus Europas Kompanien kaum mehr fortzudenken. Das ist gut so, wirft aber dennoch die Frage auf, ob Tänzer aus Deutschland dem aktuellen Anspruch gewachsen sind und wie sie ihren Platz finden. Wir mögen ein Volk der Dichter und Denker sein, ein Volk der Tänzer waren wir, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, bislang nicht, trotz unserer zehn ausbildenden staatlichen Schulen. Was also ist los im Staate Bundesrepublik?
Fakt scheint, dass es unter Jugendlichen eine Tendenz fort von physisch fordernden Berufen gibt, und Tanz ist bekanntlich wie auch Sport eine der maximal schweißtreibenden Betätigungen. In Wohlstandszeiten, mit dem Angebot verhängnisvoll vieler Sitzberufe, mag man sich eher weniger körperlich verausgaben. Zumal der Beruf des Tänzers, neben emotional unendlich erfüllenden Momenten, auch seine Schattenseiten hat: langes Studium, zunehmend akrobatisch virtuose Anforderungen, hohes Verletzungsrisiko, relativ kurze Karrieren. Hinzu kommen das ständige Damoklesschwert der Kündigung, vornehm Nichtverlängerung geheißen, nicht eben üppige Bezahlung zumindest in mittleren und kleinen Kompanien und, nicht zuletzt, die Ausdünnung der Ensembles auf die absolut notwendige Zahl an Planstellen. Vom Schreckgespenst der Auflösung ganzer
Ensembles, um vermeintlich Kosten zu sparen, oder der stellenkillenden Zusammenlegung wie im Fall von Berlin, Altenburg-Gera, Greifswald-Stralsund, Darmstadt-Wiesbaden, gar nicht zu reden.
Was lässt sich mildernd dagegen anführen? Auch andere Erwachsene sind nach der beruflichen Ausbildung oder dem Studium vor Kündigungen, aus welchem Grund immer, nicht gefeit. Im besten Fall hat man seinen oder einen anderen flexibel erhaschten Job sein Leben lang inne – aber kann man dann auch auf derart beglückende Momente zurückblicken, wie Tänzerinnen und Tänzer sie üblicherweise hatten? Lohnt nicht das schon die Strapazen einer neunjährigen Tanzausbildung und alle Risiken? Wer den Tanz wirklich liebt, kann diese Erfahrungen auch in mittleren und kleinen Ensembles machen, wo man rasch Erfolge erringt, weil jedes Beinpaar dringend gebraucht und deshalb meist auch gut gefördert wird.
Schicken Sie, liebe Leserinnen und Leser, Ihre tanzwütigen Sprösslinge also bitte wohlgemut auf eine unserer
staatlichen Ballettschulen und helfen Sie mit, das oben skizzierte Vorurteil zu widerlegen. Was Sie in der
vorliegenden Ausgabe über Schulgalas lesen können, möge Sie ebenso ermuntern wie die Starporträts und die
Premierenrezensionen aus aller Welt. Es lebe der Tanz, vive la danse, viva la danza!
Herzlich, Ihr
Volkmar DRAEGER
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