Dunkles Blech ertönt, auf der Leinwand kriechen Wanderwolken, formen sich zu Bildern, Gestalten, hohläugigen Wesen, die sich im Nebel sofort wieder auflösen. Vor den verschatteten Videos verabschiedet sich ein junges Paar: Der Mann, Jonathan Harker, muss verreisen, sie, seine Braut Mina, sorgt sich. In einer schroffen Kristallwelt kommt er an, erwartet vom unter Stoffen verhüllten Kutscher und gewarnt von ängstlichen Dorfbewohnern. Dann trifft Rechtsanwalt Harker auf seinen Klienten: in einem weit nach hinten sich dehnenden Schloss, dessen Bögen drohend lasten und das eine gewaltige Apsis beschließt. Großartig dies Bühnenbild von Darko Petrovic! Es schafft die rechte gespenstische Atmosphäre für ein Ballett um den legendären Dracula. Seit Bram Stokers 1897 publiziertem Roman geistert der wohl berühmteste Vampir der Weltgeschichte über Bühnen, durch Filme und Opern. Auch Magdeburgs Ballettdirektor Gonzalo Galguera zeigt sich angetan von der Figur dieses tragischen Untoten und hat ihn in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt nun zu neuerlichem Leben erweckt.
Was man indes nach den zahlreichen Schauerlichtspielen von den 1920ern bis ins laufende Jahrtausend vermuten würde, das tritt hier eben nicht ein. Galgueras „Dracula“ ist keine rüde Blutsudelorgie, der transsilvanische Graf kein fieser Sauger mit Frankenstein-Grusel, sondern ein Getriebener, am Ende ein vom Bann des Beißens Erlöster. Dracula als ein mit sich, ja gegen sich kämpfender Mensch, das Ballett fast die Elegie auf einen Gehetzten – das hat man so noch nicht gesehen. Unheimlich geht es auf der Szene dennoch zu, aber mit welcher Delikatesse!
In sechs Szenen, gerahmt von Prolog und Epilog, läuft die Geschichte ab, personell gegenüber der Vorlage etwas reduziert und auf die wesentlichen Figuren konzentriert. Wie der biedere Engländer Harker auf den gebieterischen siebenbürgischen Grafen in Lederjacke und Langrock trifft, den Unberührbaren, ist in der angstvollen Jagd auf und unter einem Tisch, dann im Gefesseltsein Rücken und Rücken ein erster choreografischer Höhepunkt. In einem Duett aus Harkers Fantasie ist auch Mina von dem rätselhaft schwermütigen Mann gebannt. Harker selbst suchen in einer Art Bacchanal drei Vampirinnen heim, über denen sich immer wieder gierig drei Lichtstrahlen verschlingen.
Daheim in London gibt Minas Freundin Lucy ein Fest, auf dem als fremder Gast Dracula erscheint. Dessen sonderbarem Charme verfällt die lebensfroh neugierige, somnambule Lucy und wird durch dessen Biss zur saugenden Gefährtin. Mina versucht in diesem spannungsgeladenen Trio vergebens, die Freundin zurückzuhalten. Doch auch Mina bleibt nicht unbeeindruckt von Draculas stolzer Erscheinung. Der quält sich in einem intensiven Solo voller geduckter Bodenpassagen mit seiner Bestimmung, anderen Menschen Unglück zu bringen, und erweist sich so als ein Mensch im latenten Zwiespalt. Lucy ist nicht mehr zu retten; Professor van Helsing befreit sie mit einem Stich ins Herz von ihrer nächtlichen Umtriebigkeit. Bei Mina versagt sich Dracula den Zwang zum Biss, verleitet sie allerdings, sein Blut zu trinken, was immer das bewirken mag. Fulminant dann in dessen transsilvanischem Schloss, durchtanzt von einem Reigen unseliger Geister, das finale, akrobatisch aufschäumende Ringen auf dem Henkertisch: Nach zähem Hin und Her rammt Harker dem Grafen ein Messer in die Brust; dessen letzter, wohl liebender Fingerzeig richtet sich auf Mina. Ob das plagbefreite Paar nun eine neue Chance hat, bleibt offen.
Ereignet sich die Schlussszene zu wunderbar friedvoller Musik aus Edward Elgars „Enigma Variations“, so geben den anderen Bildern hauptsächlich Kompositionen von Sibelius und Rachmaninow Kraft, aber auch von weniger bekannten Engländern wie Elizabeth Maconchy und George Lloyd. Gonzalo Galguera legt keine bilderstürmerisch revolutionäre Fassung des Stoffes vor, erzeugt beim Betrachter durch sein ästhetisches Gespür und seine choreografische Erfindungskraft jedoch ein nicht abreißendes Zusehvergnügen. Er punktet mit einem Abend wie aus einem Guss und baut Magdeburgs singuläre Position als Hochburg des neuen Handlungsballetts weiter aus.
Getragen wird die gediegene Produktion von einem überragenden Mihael Belilov in der Hauptrolle, technisch mühelos, mit plastischem Körper und der darstellerischen Feinnervigkeit für diesen kniffligen Part. In Grettel Morejóns Mina und Anastasia Gavrilenkovas Lucy stehen ihm zwei brillante Partnerinnen zur Seite, in der Magdeburgischen Philharmonie unter Svetoslav Borisov dem gesamten Ensemble ein dramatisch stark aufspielender Klangkörper. „Dracula“ hat das Zeug zu einem echten Repertoirestück.
Volkmar Draeger
Wieder 23.5., 2.6., Tickettelefon 0391-40 490 490, www.theater-magdeburg.de