Der Ballettabend „Pure Bliss“ beim Stuttgarter Ballett
Das „reine Glück“ verspricht der englische Titel, und tatsächlich war lange kein Abend des Stuttgarter Balletts so positiv, so heiter – eine willkommene Entspannung nach der Corona-Pandemie. Ein dunkleres Stück steht zwischen zwei hellen, alle drei hat der Schwede Johan Inger choreografiert und zeigt dabei seine Kunst auf höchst unterschiedliche Weise. „Bliss“, entstanden 2016 fürs Aterballetto, übersetzt mit Keith Jarretts „Köln Concert“ ein legendäres Jazzereignis in Bewegung. Mit ihrer hypnotischen Klangkraft begeisterte die Klavierimprovisation damals 1975 eine ganze Generation. Geradezu losgelöst lassen sich die Stuttgarter Tänzer in diese soghafte Musik fallen, tanzen sorglos auf ihren Rhythmen dahin – nicht mit den gestreckten Linien des Balletts, sondern in einer jazzig-synkopierten, lockeren Hingabe an die Musik, schlenkernd, kickend, schwelgend. Nur ein paar warme Lichter brennen auf der weiten, kahlen Bühne; nichts wirkt vorgefertigt oder strukturiert, wir sehen ein lächelndes Sich-aufeinander-Einlassen ohne Begehren oder Aggression. „Bliss“ ist ein schönes und befreites Stück über das Glück, das die Menschen fühlen könnten, würden sie, statt Kriege zu führen, einfach nur Musik machen und tanzen.
„Out of Breath“ feierte vor drei Jahren im Ballettabend „Atemberaubend“ seine Stuttgart-Premiere. Inger zeigt hier die Sorge um einen geliebten Menschen am Rande des Todes, das Warten und Zweifeln, die Hilflosigkeit. Die hohe, elliptische Mauer aus weißen Brettern ergibt dann Sinn, wenn sie sich nach vorne dreht und als ein halbes, gerade im Boden versinkendes Herz entpuppt. Zu einem nervös-flirrenden Streichquartett von Félix Lajkó rennen die sechs Tänzer wütend dagegen an und kämpfen gegen den unberechenbaren Feind – bis es Agnes Su in einem fast unmenschlichen Kraftakt gelingt, das offene Herz wieder zu schließen.
Die einzige Uraufführung des Abends ist eine echte Überraschung: mit „Aurora’s Nap“, also „Auroras Nickerchen“, liefert der seriöse, NDT- und Cullberg-geadelte Avantgarde-Choreograf eine lupenreine Ballettparodie ab. Respektlos fegt die auf eine Stunde eingedampfte Kurzversion, sehr frei nach Petipa und Tschaikowsky, durch drei Akte, sie ist manchmal grenzwertig albern, aber als Parodie richtig gut. Und wo sonst soll man das machen als in Stuttgart, wo jeder Zuschauer Marcia Haydées „Dornröschen“ en detail kennt und wo schon John Cranko in seiner „Zähmung“ einst Balanchine parodierte? Hofstaat, Feen, Blumenwalzer, alles ist zurechtgestutzt auf Taschenformat, im Hintergrund steht das Schloss als weiße Hüpfburg (ein Schelm, wer an William Forsythes „White Bouncy Castle“ denkt).
Nicht nur wirft der schusselige König (höchst amüsant: Roman Novitzky) ständig sein deutlich als Puppe erkennbares Neugeborenes durch die Lüfte, er und seine Gattin kapieren trotz mehrfacher Wiederholung die feinziselierten Pantomimen der Fliederfee nicht, bis sie den Inhalt in schriftlicher Fassung einreicht. Die guten Wünsche der Feen gehen prompt noch in der Wiege in Erfüllung, da entwickeln einzelne Märchenfiguren egozentrische Anwandlungen, einmal pro Akt bricht das helle Chaos aus und löst sich binnen Sekunden zur perfekten Schluss-Apotheose. Rotkäppchen, der Blaue Vogel und das Kätzchen platzen jeweils völlig unpassend herein, die vier Bewerber um Auroras Hand sind Karikaturen aus „Don Quijote“ und anderen Klassikern (besonders herrlich: Christopher Kunzelmann als fassungslos-dummer Prinz von Deutschland). Allein bei Carabosse traute sich Inger offensichtlich nicht, Haydées grandioses Vorbild zu parodieren; sie fällt schick, aber zahm aus.
Die Stuttgarter Tänzer entwickeln eine wunderbare Selbstironie, angefangen bei Elisa Badenes, einer flippigen Aurora mit Hang zur Groteske. Weltstar Friedemann Vogel absolviert sein prinzliches Auftrittssolo auf dem Roller und saust, sehr elegisch zwar, aber ohne jeden Tanzschritt, auf der anderen Seite wieder hinaus. Im schicken Anzug nimmt er gleich noch sein Model-Image aufs Korn. Höchst raffiniert und sehr passend zur Musik spielt Inger mit einzelnen Kunststückchen des Ballerinen-Repertoires, zitiert „Giselle“, „Schwanensee“ und „Die Kameliendame“, findet standhafte Abhilfe für die Balancen des Rosenadagios und lässt die gesamte Bühne jubeln, als sie geschafft sind. Als entnervte Fliederfee raucht Agnes Su erst mal eine Fluppe und organisiert dann doch recht patent das Happy End, notfalls mit Gekeife. Desiré ist ein gelangweilter Party-Prinz, seine schicke Chaiselongue wird zu Petipas Nachen, natürlich muss das berühmte „Titanic“-Bild kurz herhalten – und dann scheitert auch der Retter an den pantomimischen Hinweisen der Fliederfee, obwohl sie mit den Händen so laut „Küss sie und dann wacht sie auf“ schreit, dass man es fast auf die Bühne rufen möchte.
Mit dem ultralangen Erweckungs-Kuss grüßt Inger den Kollegen Jean-Christophe Maillot in Monte-Carlo, und schon sind wir am Ende. Halt, ein kleiner Nachklapp kommt noch: Die Musik des Grand Pas de deux scheppert aus einem fernen Radio, und plötzlich sind all die überkandidelten Kostüme verschwunden. In Minimalbekleidung zeigen Aurora und ihr Prinz, was nach dem Kuss kommt: ein unschuldiges, sehr körperliches Kennenlernen, nun in Ingers ureigenstem, modernen Idiom. Aurora schaut noch einmal nach hinten zum verglimmenden Schatten des Märchenschlosses: Alles nur ein Traum. Dann rennt sie lachend ihrem Prinzen nach, hinaus in die Gegenwart: Nichts wie weg aus dem Märchenland!
Angela Reinhardt