Schülerinnen der John Cranko Schule in "Salade" © Stuttgarter Ballett
Kritiken

Die alten und die neuen Klassiker

Auftritte der Stuttgarter John-Cranko-Schule und der Mannheimer Akademie des Tanzes

von Angela Reinhardt

Sehr viel akademische Klassik hatte die Stuttgarter John-Cranko-Schule bei ihrem Auftritt im Ludwigsburger Forum am Schlosspark im Gepäck – den „Nussknacker“ traditionell und mit einem Ausschnitt aus der verlorenen Fassung John Crankos, „Schwanensee“, weitere zwei Cranko-Stücke und das Werk eines blutjungen Italieners, der sich aufmacht, Alexei Ratmansky Paroli zu bieten. Da die Schule hier gewissermaßen als Juniorkompanie auftrat, waren fast nur die Akademieklassen im Einsatz – technisch bestens ausgebildete und fast durchgehend fehlerlose Tänzer, viele davon bereits mit eigenem Charisma und einer erstaunlichen Sicherheit des Auftritts.

In Variationen aus dem „Nussknacker“ à la Petipa/Iwanow/Vainonen überzeugten Thalina Chapin und Joshua Nunamaker, dazu drei blitzsaubere Drittklässler und dann das Paar Yuka Kasai und Alexei Orohovsky – dieser schmale, fesche Amerikaner hat unglaubliches Virtuosenpotenzial, braucht aber ein wenig mehr Frechheit, das Vertrauen zur Bühne. Dann wird er funkeln! Abigail Willson-Heisel und Mitchell Millhollin rockten den „Schwarzen Schwan“, sie mit sinnlicher Verführungskraft und stabilen, klug beendeten Fouettés, er mit einer Danseur-Noble-Seriosität, die zur Langeweile neigen könnte. Wie charmant und spontan wirkt dagegen Leon Metelsky, ebenfalls aus der Akademie A – es gibt Tänzer, die strahlen einfach von der Bühne herunter. Mit seinen sieben Kollegen suchte er in Alessandro Giaquintos „Drifting Bones“ die Verbindung zur Erde – in modernen Stücken ist die Cranko-Schule inzwischen fast noch besser als in den Klassikern, die Absolventen tanzen intensiv, dynamisch, emotional und vor allem mit eigenständiger Interpretation.

Alexa Jensen und Luca Rufo in Suite aus “Nussknacker” © Roman Novitzky, Stuttgarter Ballett
Abigail Willson-Heisel und Leonardo D’Onofrio in “La Nascita di Venere”© Roman Novitzky

Der Pas de huit aus John Crankos „Nussknacker“, einst für die Schule rekonstruiert von Heinz Clauss, erinnert mit seinen filigranen Engführungen, mit feinster Spitzenklöppelei à la Ashton und der innovativen Linienführung an des Meisters „Konzert für Flöte und Harfe“, hier wird der Unterschied zwischen englischem und russischem Ballett deutlich. Die vier Paare waren von Tadeusz Matacz exzellent einstudiert. Genau wie in „Salade“ mit den hübschen Kopfputzen aus Sphärenkreisen, genau wie in der liebevoll parodierten Macho-Runde der Herzbuben aus „Jeu de cartes“ fällt auf, wie dicht beieinander doch bei Cranko oft getanzt wird – hochmusikalisch, oft sehr schwierig und immer einfallsreich. Die Akademieschüler trafen auch in diesen beiden Stücken die feine Ironie, den Witz der Bewegungen und machten dem Namensgeber ihrer Institution alle Ehre.

John Cranko Schule, “La Nascita di Venere” © Roman Novitzky

„La Nascita di Venere“ nennt Emanuele Babici sein halbstündiges Werk zu Edward Griegs schwungvollem Klavierkonzert. Er erzählt rein klassisch und auf Spitze, mit virtuosen Herausforderungen für seine nur ein wenig jüngeren Kollegen die mythologische Geschichte von der Geburt der Venus. Oder auch nicht, denn bei all seiner erstaunlichen Begabung: Erzählen kann der junge Italiener, derzeit Eleve im Stuttgarter Ballett, so gar nicht. Die Pantomime am Anfang ist nicht einmal für Eingeweihte verständlich, dann tummeln sich zu viele namentlich benannte Götter, Grazien, Horen und Nymphen auf der Bühne, deren Auseinanderhalten man rasch aufgibt. Denn es gibt so viel zu sehen: Linien und Kreise, die sich formvollendet ineinander schieben, ein Corps de ballet aus 14 Mädchen, die mit wehenden Röcken durcheinander kreiseln und sich in schönster Ordnung wieder auflösen, um sie herum ziehen Herren ihre weiten Manègen. Die Tänzer stürmen in groß besetzten Diagonalen über die Bühne, Babici beherrscht die Strukturen und Ordnungen der akademischen Klassik, lässt das Corps nicht etwa unisono auftreten, sondern verzahnt die Choreografie der einzelnen Tänzer virtuos gegen- und ineinander. Wäre er einer, der die alten Klassiker neu inszenieren und arrangieren kann, oder sollte er, genau wie Alexei Ratmansky, einfach abstrakter choreografieren? Zumindest in England und den USA könnte er mit dieser Art von Neoklassik ein Star werden. Aber auch das Adagio beherrscht der aufstrebende Jungchoreograf, mit Alice McArthur hat er eine Muse mit leichten, schwebenden Armen und jener erstaunlichen Natürlichkeit der Bewegung, bei der jede Technik hinter dem puren Tanz verschwindet. Ihre fragilen Handgelenke, die etwas höher gehobenen Ellenbogen, die Schönheit des Port de bras erinnert schon jetzt an die großen Ballerinen. Man möchte dieses zarte Wesen so bald wie möglich als Julia sehen.

Viel Klassik gab es auch bei der Mannheimer Akademie des Tanzes, die seit Birgit Keil eine enge Bindung ans Badische Staatsballett hat und deshalb ihre Schulaufführungen in Karlsruhe zeigt. Hier gab es Variationen aus einem feenmäßig deutlich überbevölkerten „Dornröschen“ und im zweiten Teil die „Polowetzer Tänze“, die man bei uns sonst nur von russischen Gastspielen kennt. Rosemary Helliwell hatte den Auftritt der Feen aus dem ersten Akt von „Dornröschen“ einstudiert. Die sechs Begleiter bestachen mit königlicher Haltung und Natshuha Tonouchi zog als Fliederfee souverän ihre Linien, während das Niveau bei den anderen Feen doch unterschiedlich war. Nicht nur hier, auch im weiteren Verlauf des Abends tanzten alle Gruppen geradezu auffallend synchron miteinander, die Abschlüsse der Solos kamen genau auf den Punkt.

Die Mannheimer Akademie des Tanzes bei einer Probe zu “In The Middle, Somewhat Elevated” © Akademie des Tanzes

Die „Polowetzer Tänze“ stammen aus der Oper „Fürst Igor“ von Alexander Borodin, aus der exotisch timbrierten Musik machten zwei Broadway-Komponisten später ein Musical und eine Borodin-Melodie wurde als der Song „Stranger in Paradise“ weltbekannt. Alexander Kalibabchuk hatte das kurze Werk, das als eigenständiges Ballett durch Diaghilews Ballets Russes in den Westen kam, nach einer Version der ukrainischen Choreografin Aniko Rekhviashvili einstudiert, ein großes Nationaltanz-Abenteuer mit Peitschen, Bogen, Stiefeln, georgischem Tanz auf den Knien und einer Menge geheimnisvoller Frauen in Pluderhosen. Neben einem wenig bedrohlich wirkenden Khan (Gabriel Capizzi) stach der schnelle, hochvirtuose Alessandro Ricci mit seinen in der Luft stehenden Sprüngen heraus, auch hier tanzten die Gruppen sehr synchron. Man möchte gar nicht wissen, wie viele Einsprüche wegen Exotismus, Sexismus oder kultureller Aneignung man gegen so ein wunderbares altes Ballett-Relikt heutzutage vorbringen müsste; so lange die Mannheimer Schüler am gleichen Abend so viele zeitgenössische, abstrakte Stücke in Unisex-Kostümen tanzen, darf man beruhigt davon ausgehen, dass ihnen die historischen Unterschiede bekannt sind.

Die Mannheimer Akademie des Tanzes bei einer Probe zu “In The Middle, Somewhat Elevated” © Danilo Floreani
Die Mannheimer Akademie des Tanzes bei einer Probe zu “In The Middle, Somewhat Elevated” © Akademie des Tanzes

Denn wer bei Agnès Noltenius studiert, die seit 2020 die Mannheimer Akademie leitet, der darf Forsythe tanzen, und zwar gleich einen richtigen Hammer. Die ehemalige Tänzerin des Frankfurter Balletts hat die Erlaubnis bekommen, einen großen Teil von „In the Middle, Somewhat Elevated“ einzustudieren, und ihre Schüler sahen klasse darin aus: cool, dynamisch, souverän. Die vorgereckten Hüften, die plötzlichen, überdehnten Sprünge, die synkopierten und tief ausgeprägten Bewegungen, die Off-Balance-Posen beim Partnern: alles da, alles richtig gut. Das Publikum, das beim ersten Schlag von Thom Willems‘ Musik noch aus den Sitzen flog, tobte am Schluss. Dass die weiteren zeitgenössischen Beiträge gegen einen so brillanten Klassiker der Moderne abfallen müssen, ist leider kaum zu verhindern; die kurzen Solos der Bachelor-Schülerinnen Teresa Curotti und Charlotte Fenn gaben ihren Mitschülern Gelegenheit, sich im expressiven Tanz auszuprobieren. Der ehemalige Karlsruher Tänzer Guilherme Carola steuerte mit „California Sunshine“ eine eher harmlose Choreografie zu einer spannenden Atem-Musik bei; er hat soeben in Coburg eine neue „Giselle“ choreografiert. Interessanter sah die Uraufführung „Einklang“ des norwegischen Ex-NDT-Tänzers Jon Ole Olstad aus, in sehr verschiedenen Tempi, mit einem hartnäckig gerufenen, geheimnisvollen Wort, manchmal fast mystisch. Olstad verarbeitete zunächst den Social-Media-Trend der synchronen Gruppen-Handbewegungen, bevor es zeitgenössischer und auch einsamer wurde, „Einklang“ ist ein eher trauriges Stück. Die Mannheimer Akademie macht ihre Schüler mit einer großen Stilvielfalt bekannt!

 

Beide Schulen treten mit diesen oder ähnlichen Programmen nochmals auf:

Die Akademie des Tanzes im Badischen Staatstheater am 1. und 23. April sowie am 13. Mai

Die Cranko-Schule im Stuttgarter Opernhaus am 16. und 23. Juli, dann auch als Ballett im Park