Marion Motins „Le Grand Sot“ © Nicholas MacKay
Kritiken

Denken in (Körper-)Bildern

Die spektakuläre Sommer-Premiere „Sphären 01/Goecke“ des Bayerischen Staatsballetts im Münchner Prinzregententheater

 

Was für ein Start in die Münchner Opernfestspiele – mit einer Tanzpremiere der Superlative. „Sphären 01“ wurde gemeinsam von Marco Goecke als Kurator und dem Direktor des Bayerischen Staatsballetts Laurent Hilaire auf die Beine gestellt. Es handelt sich um die erste Ausgabe einer ursprünglich als Uraufführungsformat für Nachwuchschoreografen ins Leben gerufenen Reihe in organisatorisch neuer Weise. Inhaltlich gleichgeblieben ist, dass zum Spielzeit-Finale zeitgenössisch-frische Stücke präsentiert werden, deren Ungewöhnlichkeit wie virtuose Brillanz einfach ansteckend wirken. Weil dieses Mal der Mix aus Bauch- und Kopfgefühl wunderbar harmonierte, versetzte der kompakte Vierteiler – voller schöner Details! – das Publikum zu Recht in einen wahrhaft sinnlichen Taumel.

Marco Goecke, um dessen „Ausraster“ einer Kritikerin gegenüber vor einigen Monaten viel Gewese gemacht wurde, war persönlich nicht anwesend. Nichtsdestotrotz schickte er den von ihm ausgewählten Choreografen des Abends – Nicolas Paul („ein Tipp von Hilaire“) und Fran Diaz (bis 2022 Tänzer bei Goecke in Hannover) – einen flatterhaft-rasanten, sehr persönlichen Prolog voraus: sein 2015 für Studierende der Staatlichen Ballettschule Berlin entstandenes „All Long Dem Day“. Der Titel rührt von einer Zeile des Songs „Sinnerman“ der hier musikalisch den Ton angebenden Bluessängerin Nina Simone her. Die Einstudierung mit 12 Tänzerinnen und Tänzern des Bayerischen Junior Ballett München wurde vom freischaffenden Ballettmeister Fabio Palombo dermaßen gut bewerkstelligt, dass man die sonst künstlerisch von Ivan Liška gecoachten Youngsters im diffusen Lichtdesign mit ihren gegelten Frisuren kaum wiedererkannte.

Ein solcher Power-Schick gepaart mit einem Hauch geheimnisvoller Düsternis steht der Junior-Kompanie perfekt zu Gesicht. Alle scheinen sich sichtlich wohl zu fühlen bei dieser mehr als bloß technisch brandneuen, spannungsgeladenen Herausforderung. Am Ende des energetischen Flusses mit signifikanten Wirbeln aus stark betonten Arm- und Handgesten, scharf konturierten Gruppen, kurzen Duetten und impulsiven solistischen Sequenzen hebt einer der Tänzer stierkämpfermäßig seine Arme über den Kopf. Und schon durchbricht – noch bevor Dunkelheit das finale Bild verschluckt – tosender Applaus die Faszination dieses stillen, zeitlupenhaft retardierten Moments.

Fotos: © Nicholas MacKay

„L’Éternité Immobile“, Ch. Nicolas Paul

Rückblickend entpuppt sich der Mini-Effekt als treffliche Überleitung zur nachfolgenden Uraufführung des Franzosen Nicolas Paul. Mit „L’Éternité Immobile“ („Die unbewegliche Ewigkeit“) und ihren acht Interpreten wird für eine an dieser Stelle des Abends goldrichtige Entschleunigung gesorgt, die eine – auch dank originellen Beleuchtungszaubers – visuell hinreißende Wirkung entfaltet. Dennoch geht es zwischendurch dynamisch und launig zu. Die Protagonisten werden ab und an von Schatten begleitet, die sich linear vervielfältigen, verselbständigen und wieder verblassen. Da friert plötzlich die schwarze Silhouette einer Tänzerin riesengroß im Hintergrund ein. Daraufhin traktiert diese ihr dem Augenblick abhanden gekommenes Alter Ego mit Fäusten, so dass der helle Stoff des Hängers Wellen schlägt. Aus Formationen schälen sich Paare, nicht-greifbar Dramatisches entsteht und tolle Anstöße fürs Kino im eigenen Kopf tauchen auf.

Evlina Ibraimova in „L’Éternité Immobile“

Eine konkrete Geschichte will Paul zur Minimal Music von John Taverner nicht erzählen. Die einzig schattenlose, omnipräsente, dabei ganz introvertierte Rolle, die er Staatsballett-Solistin Elvina Ibraimova auf den Leib geschneidert hat, mag jedoch eine Art unerbittliche Beständigkeit verkörpern – genau wie die Zeit, mit deren Wahrnehmung, unterschiedlichen Bedeutungsebenen und unmöglicher Fassbarkeit der Choreograf hier raffiniert spielt. Tänzerin und Zeit scheinen sich immer weiter zu bewegen, egal was um sie herum passiert.

„The Habit“, Ch. Fran Diaz

Nach der Pause nimmt das Tempo mächtig an Fahrt auf. Erneut sind acht exzellente Tänzerinnen und Tänzer bei „The Habit“ des Spaniers Fran Diaz am Start – in weiten weißen Anzügen und großen Barockschleifen um den Hals. Jeder von ihnen darf sich stellenweise individuell wie kapriziös präsentieren, auch wenn inhaltlich dabei wenig Dingfestes auszumachen ist. Ausnahme-Tänzer Shale Wagman sticht allerdings besonders heraus. Während die Gruppe erst einmal am Rand hinter einer enorm großen, metallenen „Dornenkrone“ verharrt, legt er als Einzelgänger bereits los – mit einer hier insgesamt richtungsweisenden tanztechnischen Qualität und Komplexität, die einem 25 Minuten lang Schauer der Begeisterung über den Rücken jagen.

Später – da prangt das dominante Ausstattungselement bereits als Kronleuchter hoch über dem schwarzen Raum – erlebt man so etwas wie liturgische Rituale bzw. das schematische Sich-Eintakten einzelner in das im Kreis rennende Kollektiv. Mittendrin lässt Diaz eine Rakete explodieren: Rote Bänder schießen durch die Luft und bleiben im schwebenden Rund hängen. Das macht kolossalen Eindruck, wird jedoch letztlich noch getoppt durch ein verrücktes Duo der beiden Solisten Wagman und António Casalinho. Fähigkeiten wie die dieser beiden Prix-Lausanne-Gewinner müssen den Choreografen regelrecht zu „The Habit“, das traumartig an einem vorbeirauscht, verführt haben. Bleibt zu hoffen, diese Neukreation irgendwann wiedersehen zu können. Vorgesehen – so die Spielregeln von „Sphären“ – ist das leider nicht.

Einzig der fantastische Rausschmeißer dieses überaus gelungenen Programms wird ein zweites Mal gezeigt: beim Septemberfest der Staatsoper im Rahmen der Produktion „Blickwechsel“ (23./24.9.23). Am besten sichert man sich sofort Karten, denn selten darf das Bayerische Staatsballett mit solch irren Persönlichkeitsfacetten glänzen wie hier im herausgelösten ersten Teil von Marion Motins „Le Grand Sot“ („Der große Trottel“). Die Tänzerin und Choreografin kommt aus der französischen Hip-Hop-Szene und hat sich sowohl am Theater als auch in der Popbranche einen Namen gemacht. Den Anfang ihrer hinreißend verrückten Choreografie macht die Rückenansicht einer Tänzerin, die ihren durchtrainierten Po im Rhythmus von Maurice Ravels „Boléro“ von rechts nach links und wieder zurück wippen lässt. Das findet sogleich Nachahmer. Langsam steigern sich die Moves, und die Teamführer der variationsfreudigen, sonnenbebrillten Durchhalte-Clique lösen einander ab. Sich frech stets in die bestmögliche Pose werfend werden diverse Schritteinheiten verschiedenster Sportarten zerlegt und durchexerziert – bis zur Erschöpfung. Das ist lustig, sexy und selbstreflexiv zugleich. Insgesamt ein vielversprechender Aufbruch zu anderen Sphären.

„Le Grand Sot“, Ch. Marion Motin

Apropos „Sphären“

Zuversichtlich stimmte, dass für die erste von Ballettchef Laurent Hilaire verantwortete Ausgabe der sommerlichen Opernfestspiel-Ballettpremiere endlich ein Reihentitel gefunden wurde, der von Dauer sein könnte und sollte: Hinter „Sphären“ verbirgt sich die Fortsetzung einer Serie, die ursprünglich für Nachwuchschoreografen beim Bayerischen Staatsballett ins Leben gerufen wurde. Schon im Sommer 2017 war man damit an den Start gegangen – noch unter dem Label „Junge Choreografen“. Zur Aufführung kamen unterschiedlichste zeitgenössische Arbeiten für die klassisch-basierte Kompanie, die seit 2016 unter neuer Leitung stand. Ab 2019 hieß die letzte Saison-Premiere dann „A Jour“ und seit 2021 schließlich „Heute ist Morgen“. Dass Hilaire das längst feststehende Programm des voller Überraschungen steckenden letztjährigen Mehrteilers kurzfristig nicht mehr beeinflussen konnte, änderte nichts an seinem früh gefassten Vorhaben, das überzeugende Projekt in die Zukunft führen zu wollen. Aber wie?

Hilaire hat einen interessanten Neuansatz gefunden: Als Ballettdirektor verzichtet er auf die alleinige Auswahl derjenigen Künstler, die Aufträge für neue Stücke erhalten. Stattdessen vertraut er die Zusammenstellung des Abends einem erfolgreichen Choreografen mit an. 2024 wird das Angelin Preljocaj sein. Dessen für die Pariser Opéra kreierten Abendfüller „Le Parc“ holt Hilaire zudem nach München. Ziel dieses neuen Konzepts ist es, Verbindungen innerhalb einer choreographischen „Sphäre“ aufzuzeigen und so mögliche Elemente einer Tanzsprache der Zukunft zu entdecken. Das macht Sinn.

Erstmals bei „Sphären 01“ fand auch eine Beteiligung des Bayerischen Junior Ballett München statt. Ein Grund für die neue Einbindung der Junior-Kompanie mag das angestrebte „engere Zusammenrücken“ von Ivan Liška – seit Konstanze Vernons Tod vor zehn Jahren künstlerischer Leiter des Nachwuchsensembles – und Staatsballett-Chef Laurent Hilaire sein. Im Hinblick auf eine noch intensivere Nachwuchsförderung erscheint dies ebenfalls sinnvoll. Mit „Sphären 01/Goecke“ jedenfalls wurde die Latte für alle kommenden Gastchoreografen schon einmal sehr hoch gelegt.

Vesna Mlakar