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Kritiken

Das Ballett „Die Glasmenagerie“ von John Neumeier

In der Hamburgischen Staatsoper hat John Neumeiers Ballett „die Glasmenagerie“ nach Tennessee Williams Uraufführung gefeiert. Im Mittelpunkt steht die Familiengeschichte der gehbehinderten Laura Wingfield, die sich in ihrer Sammlung von Glastieren verliert. 60 Jahre dauerte es, bis John Neumeier es wagte, das Stück als Ballett auf die Bühne zu bringen. Ein Reifeprozess, der sich gelohnt hat.

© Kiran WestVerträumt sitzt die junge Laura Rose vor einer Vitrine und sortiert ihre Kostbarkeiten: Glastiere. Das gläserne Einhorn ist ihr Lieblingsstück. Es scheint so zerbrechlich wie sie, die tief versunken, immer wieder ihre glitzernden Figuren bewundernd hin- und herschiebt. Die Glastiere sind ihr Schutzraum, in den sie seit ihrer Kindheit flieht, denn Laura, getanzt von der wunderbaren, kindlich-fragilen Alina Cojocaru, kann nicht so leben wie ihre Altersgenossinnen. Sie ist gehbehindert und zieht sich deshalb, wann immer sie kann, in ihre Welt zurück. Zum Leid ihrer dominanten Mutter Amanda, überzeugend kraftvoll getanzt von Patricia Friza, die als alleinerziehende Mutter in der amerikanischen Südstaatengesellschaft Ende der 1930er Jahre versucht, ihr Schicksal zu meistern.

In dem Bühnenstück „Die Glasmenagerie“ wollte Tennessee Williams das Wesen des Menschen greifbar machen, indem er die Szenen als “Memory Play” aus der Perspektive persönlicher Erinnerungen von vier Darstellern erzählte. Der Choreograf John Neumeier schafft es, das Stück als Spiel der Erinnerungen auf das gesamte Ensemble als Ballett zu übertragen. Dazu hat er mit den drei amerikanischen Komponisten Charles Ives, Philipp Glass sowie Ned Rorem eine passende musikalische Wahl für das Ballett getroffen, die den Charakter des vertanzten Dramas genau treffen. Philipp Glass Musik aus dem Film „The Hours“ spiegelt die fragile Atmosphäre des Dramas wider. Mit der experimentierfreudigen Musik von Charles Ives setzt Neumeier in seinem Ballett einen anderen Akzent zur melancholisch-einfühlsamen Musik von Glass. Ned Rorems Quintett „Bright Music“ für Flöte, Streichtrio und Klavier sorgt am Ende des Dramas für einen aufregenden Schlusspunkt. Simon Hewett dirigiert das Philharmonische Staatsorchester Hamburg sowie Studierende der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.

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Tennessee Williams autobiografisches Stück erzählt die Geschichte des Sorgenkinds Laura, die im wahren Leben Williams psychisch kranke Schwester Rose ist. Lauras Mutter Amanda ist zugleich Tennessee Williams Mutter Edwina. Tennessee selbst, eindrucksvoll verkörpert von Edvin Revazov steht immer wieder neben seinem Alter Ego, Tom Wingfield, kraftvoll und ausdrucksstark getanzt von Félix Paquet, auf der Bühne.

Mit 17 Jahren sah John Neumeier das Vierpersonenstück das erste Mal auf der Bühne und war sofort davon begeistert. Es brauchte allerdings Jahrzehnte, bevor er sich an das Stück als Ballett heranwagte. Als er das erste Mal mit seiner Hauptdarstellerin Alina Cojocaru zusammenarbeitete, wusste er, dass die Zeit dafür gekommen war. Neumeier transformiert für sein Ballett Situationen von Williams Lebensgeschichte, arbeitet bestimmte Stimmungen, Erinnerungen und Situationen des Dramas heraus und verwebt sie zu einem einzigartigem Ballett. Die Vergangenheit verschmilzt mit Sehnsüchten und Situationen der Gegenwart und den Möglichkeiten der Zukunft, die aufeinander einwirken.

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So beginnt das Ballett mit einem Rückblick in die Kindheit auf einem Schiff, auf dem das Kindermädchen Ozzie neben der jungen Laura Rose, getanzt von Emilia Koleva und dem jungen Tom, getanzt von Andrej Urban, auftauchen. Immer mit dabei ist auch Tennessee als Erzähler.

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Zurück in der Gegenwart bildet ein Tisch in der beengten Wohnung in St. Louis den symbolischen Mittelpunkt der Familie. Bruder, Schwester und Mutter halten sich liebevoll  an den Händen, zerren an den Armen und tragen am Essenstisch wie in einer Arena ihre inneren und äußeren Konflikte aus. Die Mutter, tief gekränkt und verbittert, weil sie von ihrem Mann verlassen wurde, trauert ihrem alten Leben hinterher. Immer wieder zeigt Neumeier eine ganz andere Amanda, die sich rückblickend über ihre zahlreichen blumenbringenden Verehrer freut.

Ihr Sohn Tom widmet sich zu jeder Gelegenheit dem Zeichnen, denn eigentlich will er Künstler werden. Eine Parallele zu Tennessee Williams, der gerne Dichter werden wollte. Nachdem der Vater die Familie verlassen hatte, muss Tom, genau wie Tennessee, für sie sorgen und arbeitet unwillig in einer Schuhfabrik.

Die monotone Arbeit in der Fabrik wird von dem Hamburger Ensemble tänzerisch kreativ und kraftvoll umgesetzt. Die innere Zerrissenheit, die Frustration und Verzweiflung über sein inneres und äußeres Gefängnis in dem Familiengefüge wird von dem Solisten Félix Paquet als Tom glaubhaft und eindringlich verkörpert. Immer wieder flieht er ins Nachtleben, trinkt und umgibt sich mit Männern, um der Realität zu entfliehen.

Während die Mutter Frauenzeitschriften austrägt, versucht sich Laura als Schülerin an einem College für das Fach Schreibmaschine. Dem Rhythmus der Maschinen angepasst, übertreffen sich die angehenden Vorzeigesekretärinnen gegenseitig, doch Laura ist alles andere als das. Sie bleibt die Langsamste im Kurs. Ihr Versuch, in der Außenwelt erfolgreich zu sein, scheitert unter den strengen Blicken der Lehrerin, hinreißend getanzt von Yun-Su Park.

Der Zuschauer möchte Laura zum Trost in seine Arme nehmen, denn sie scheint einfach nicht für die industrialisierte, sich immer schneller werdenden Welt sowie für die vergnügungssüchtige Gesellschaft geschaffen. Alles dreht sich immer wieder um das zarte-kindliche Gemüt und den zerbrechlichen Körper der Tochter. Alina Cojocaru meistert ihre Rolle der gehbehinderten Laura Rose tänzerisch auf höchstem Niveau. Ihr rechter Fuß steckt in einem Absatzschuh, ihr linker Fuß in einem Spitzenschuh. Ein Symbol dafür, dass sie den Sprung vom Mädchen zur erwachsenen Frau lange Zeit nicht wagt. Ihre körperliche Einschränkung gibt ihr zugleich die Rechtfertigung dafür, in ihrem Leben zu verharren.

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Erst als sie mit ihrem Verehrer und später in ihrer Phantasie mit einem Einhorn tanzt, trägt sie zwei Spitzenschuhe und zeigt in zwei ergreifenden Pas de deux, wie es sein könnte, ihre wahren Träume als Frau zu leben.

In der Hoffnung, ein Verkupplungsversuch möge ihr gelingen und sie Laura endlich unter die Haube bekommen, bereitet Amanda sie auf ein Treffen mit einem Verehrer vor. Die Mutter kümmert sich liebevoll um die Haare der Tochter, schenkt ihr ein Kleid und scheinbar, soweit es der dominanten und kühlen Amanda möglich ist, tiefe Zuneigung. Patricia Friza verkörpert die Mutter, die zwischen innerer Verzweiflung und Erinnerung immer wieder hin und hergerissen ist, mit kraftvoller Hingabe.

Als der vermeintliche Retter der Familie, Jim O‘ Connor, charmant und quirlig getanzt von Christopher Evans, auftaucht, den auch Tom mehr als sympathisch findet, scheint endlich alles gut zu werden. Es kommt zu einem anrührenden Pas de deux, indem sich die beiden liebevoll vorsichtig bei einem Picknick mit Kerzen näherkommen, in dem nicht nur Lauras Glastierchen an einer Halskette, sondern auch ihre Augen im Kerzenschein glänzen. Doch der Versuch, sich der Liebe hinzugeben, ist nur flüchtig. Eindringliche Stille, als ihr Verehrer versehentlich ein Tierchen zerbricht. Ein Vorzeichen für das, was folgt, als sich herausstellt, dass Jim längst sein Herz einer anderen Frau versprochen hat und sich von Laura abwendet.

Alina Cojocaru zeigt in dieser Szene, wie ausdrucksstark sie den Schmerz der Laura Rose für das Publikum mit ihrem Körper und Gesichtsausdruck fühlbar machen kann. Besonders anrührend ist die Szene, als Laura ihrer einzigen Liebe zum Abschied trotz der Kränkung ihr kostbares Glaseinhorn schenkt. Doch was ihr bleibt, ist ihre Glastiersammlung, an der sie sich festhalten kann und mit der sie sich am wohlsten fühlt. Ihr Bruder Tom, der die Rolle des Ersatzvaters nicht länger übernehmen möchte, trifft in dem Moment die Entscheidung, die Familie und insbesondere die Schwester, für die er sein Leben geopfert hat, zu verlassen.

Die Glasmenagerie ist nach John Neumeiers erstem Tennessee Williams Stück „Endstation Sehnsucht“ aus dem Jahr 1983 der Beweis dafür, wie ein Beziehungsdrama in ein einzigartiges Ballett aus Emotionen, Erinnerungen und Handlungen transformiert werden kann. John Neumeier zeigt auch mit diesem Stück, was er am besten kann: Er ist ein Meister darin, Beziehungen zwischen Menschen sichtbar zu machen und ihren Emotionen und Spannungen durch den Tanz eine physische Form zu geben. Dabei zeigt er auch hier ein Händchen für die richtige Besetzung jeder einzelnen Rolle. Neumeier schafft es, mit der vielfarbigen Klaviatur seines Ensembles poetische Beziehungsbilder zu kreieren, die die Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte einer Familie und einer Gesellschaft beschreiben.

Die Körpersprache, die er benutzt, besteht aus Figuren, die hautnah miteinander kommunizieren, miteinander verstrickt sind, sich verdrehen, umwickeln und schließlich, ganz wie im wirklichen Leben, wieder auseinandergehen.

Es ist eine melancholisch-tragische und zugleich aufregend-bunte Inszenierung; ein Stück über Erinnerungen und Hoffnungen sowie über Phantasie, Zerbrechlichkeit und Realitätsflucht, das Neumeier mit tiefgehenden Szenen aus zwei Welten erzählt.

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Nach außen hin zeigt Neumeier Kinobesuche, lässt Revuetänzerinnen in Glitzerkostümen tanzen, zeigt Showelemente, wie sie zu der Zeit in den amerikanischen Unterhaltungsshows üblich waren, um als Gegensatz auf der anderen Seite den monetären und inneren, emotionalen Überlebenskampf vieler Menschen und Familien zu zeigen, die in Amerika durch zahlreiche Wirtschaftskrisen gehen müssen.

Die Kostüme bilden ein Stück erlebbare Zeitgeschichte nach. Das Bühnenbild, mit sparsamen Requisiten und wenig Licht, lenkt bewusst die Sicht auf die Seelenzustände der Protagonisten. Das Thema Glas ist in John Neumeiers Inszenierung omnipräsent: Lichtreflexe funkeln wie durch ein Prisma auf einer Leinwand, Spiegelfolien bedecken den Boden und durchsichtiger Stoff erinnert an unsichtbare Glaswände. Auch die Musik versinnbildlicht immer wieder das Glitzern, Splittern, Krachen und Donnern von Glas. Die sich steigernden, teils klirrenden Töne, bilden eine Parallele zur Fragilität der Familie und insbesondere der Tochter Laura Rose.

John Neumeier sieht, wie er selbst sagt, sein Werk weniger als Demonstration technischen Könnens, sondern vielmehr als “Körper-Gedichte”. Einer der produktivsten Choreografen der Zeit, der dem Hamburg Ballett seit über 40 Jahren sein künstlerisches Schaffen widmet, ist angekommen, und das auch beim Publikum, das ihm zurecht für sein neues, poetisches Ballett minutenlangen Applaus und Bravorufe schenkte.

Autorin: Viola Gräfenstein www.viola-graefenstein.de 

Die nächsten Aufführungen: 
„Die Glasmenagerie“ am Donnerstag 12.12.2019, Freitag, 13.12.2019, Freitag, 26.06.2020, 19.30 Uhr, Großes Haus Staatsoper Hamburg