Je länger das Coronavirus unsere Gesellschaft lahmlegt und alle Kulturtempel, Bühnen und Tanzparketts geschlossen bleiben, desto klarer zeichnet sich ab, dass es nicht um ein „Weiter so” gehen kann, wann immer auch die Epidemie dank Impfstrategie es zulassen sollte. Was unterschwellig schon länger spürbar war, tritt nun als großer Riss zutage: tänzerisches Business als usual trifft nicht mehr den Nerv der Zeit.
Wenn auf dem Ballroom-Sektor die großen Weltverbände seit Jahren einen verbitterten Streit miteinander führen, nur um bei sinkenden Turniertänzer-Zahlen ihren Besitzstand zu wahren, gefährdet das die gesamte Tanzszene und dient keineswegs einer besseren Akzeptanz bei den begehrten Jugendlichen. Wer will sich schon auf Gedeih und Verderb Institutionen ausliefern, die geifernd mit immer mehr Regelwerk ihre Tänzer maßregeln und sich untertan machen, die gar Tanzverbote aussprechen, die nichts mit dem Wesen des Tanzens an sich zu tun haben, wie das leider – wir haben wiederholt darüber berichtet – bei einem der Welttanzverbände, der World Dancesport Federation, vorgekommen ist.
Wenn nun zwar endlich eine Tanzart, der Breakdance, wirklich olympische Weihen bekommt und nicht wie Standard- und Lateintanzen bei den World Games ausgetragen wird, so zahlt diese doch als alternativ und extrem innovativ angetretene Tanzart einen hohen Preis. Sie muss sich in Clubs und Verbänden organisieren und einem Reglement beugen – wie sonst gäbe es denn internationale Vergleichbarkeit. Das ist das Ende der Freiheit von Breakdance.
Passen die Vorgaben des letzten Jahrhunderts denn noch in eine sich wandelnde Zeit? Die Antwort darauf kann nur Nein lauten. Tanz hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt und neu erfunden. Vom sakralen Urgrund der rauschhaften Bacchanalien hat die künstlerische Bewegungsfreude ihren religiösen Bezug überwunden und ist zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden. Sie hat sich vom höfischen Leben eines Sonnengottes bescheinen lassen und ist im Ballett zu einer Höchstform gediehen, von der wir immer noch fasziniert sind.
Petipa und sein „Schwanensee“ sind zu einem Synonym für eine Tanzwelt geworden, die bis in unsere Tage reicht. Doch nach der extremen Entwicklung des Balletts durch Petipa in die höchste Spitzentanz-Verfeinerung hinein gehen Ballett und Tanz zunehmend neue Wege. Man verliert sich heute nicht mehr in märchenhafter Romantik. Es werden auch nicht immer Geschichten erzählt, sondern Tanz wird zunehmend als „Erkenntnis-Instrument“ begriffen.
Man sucht sich Themen, die auch der Verstand nicht zwingend ergründen kann, von der anderen Seite her – vom Körpergefühl – zu nähern. Jeder Schritt löst ja im Tanzenden und im aufmerksamen Betrachter Gefühle aus. So möchte man das Unsagbare fühlbar machen. Dann hat Tanz eine „kathartische“ Wirkung, wie weiland das klassische Theater. Es verwundert nicht, dass sich in einer zunehmend säkularisierten Welt viele Choreografien auf die Suche nach Gott begeben.
Tanz kann mehr als nur das Auge erfreuen. Er kann moderne Zerrissenheit schmerzlich fühlbar machen. Der Normalfall ist heutzutage der vereinzelte Mensch, der darauf getrimmt ist, nur den eigenen Vorteil wahrzunehmen, und durch seine Gier zum berechenbaren Wesen wird, zum Futter für Algorithmen. Auch das thematisiert moderner Tanz. Menschen werden zu Pixelmännchen. An die Stelle von Gefühlen tritt Brutalität, vor allem, wenn es um Zwischenmenschliches geht.
Aber in und mit dem Tanz kann man auch das Ideal einer Harmonie erleben. Ballroom-Paare – wir wissen das – können fliegen. Die Sehnsucht, zurückzukehren zu einem magischen Idealzustand, ist groß und beglückend.
Doch warum sollte man gezwungen sein, sich zu entscheiden? Es kann doch alles zugleich stattfinden. Und es kann zusätzlich etwas ganz Neues entstehen, wenn man es denn zulässt, dass die Genres und Formen durchlässig werden. Statt gegeneinander sollte man miteinander antreten. Warum sollten sich nicht Performance-Künstler, die die virtuellen Welten schon viel weiter durchdrungen haben als die Bühnen- und Tanzparkettkünstler, zusammentun und neue Möglichkeiten eröffnen?
Man sollte sich neuen Segmenten öffnen und nicht Besitzstand wahrend auf „mindere“ Tanzarten herabblicken. Überall gibt es Spannendes zu entdecken, das sich dann durchaus auch wieder künstlerisch veredeln lässt. So gesehen ist Petipa auch nur die Spitze des Tanzschuhs.
Ute Fischbach-Kirchgraber