Ein Festival feiert Geburtstag, zumal das größte seiner Art in Deutschland. Seit 30 Jahren heizt der „Tanz im August“ jedem Berliner Sommer zusätzlich ein. Für die dreiwöchige Jubiläumsausgabe flossen die Mittel reichlicher als sonst: Zusätzlich zum Etat von 750.000 Euro aus dem Hauptstadtkulturfonds wurden Kuratorin Virve Sutinen 100.000 Euro bewilligt, und die Stiftung Lotto schoss weitere 200.000 Euro zu. Was Nele Hertling als kühne Idee 1988 ins Leben rief, eine Zusammenschau neuer Tendenzen im zeitgenössischen Tanz, wuchs sich 2018 zu 81 Veranstaltungen mit 30 Produktionen aus aller Welt an elf Berliner Veranstaltungsorten vom Hebbel am Ufer bis zum Deutschen Theater und der Volksbühne aus. Aus 18 Ländern reisten über 220 Künstler an und bescherten dem Festival eine Auslastung von rund 95 Prozent.
Die hat es auch verdient, denn 2018 wird sich als einer der künstlerisch stärksten Jahrgänge in die Festivalhistorie einschreiben. Vorrangig geht dies auf das Konto der großen Kompanien, die wegen der guten Finanzlage eingeladen werden konnten. Das Ballett aus Lyon präsentierte im selben Programm drei Versionen zu Beethovens „Großer Fuge“, überraschend klassisch von Lucinda Childs, musikfühlig und doch frei von Anne Teresa de Keersmaeker, als ungestümes Frauenpsychogramm von Maguy Marin. La Veronal aus Spanien begeisterte mit „Pasionaria“, der so beklemmenden wie witzigen Zukunftsvision einer eingesperrten, nur noch marionettenhaft agierenden Menschheit.
Zu den Höhepunkten gehörte ebenso Wayne McGregors episodische Selbstbefragung „Autobiographie“, getanzt in Hochgeschwindigkeit von einer der gegenwärtig sicher besten Kompanien und in einem hinreißenden Bühnenbild: als emotionaler Marathon durchs Leben mit seinen flüchtigen Begegnungen. Wie unterschiedlich man HipHop auf die Bühne bringen und mit Aussagen verknüpfen kann, zeigten zwei Großmeister: in „Pixel“ der Franzose Mourad Merzouki und seine famose Crew im verblüffenden Spiel mit visuellen Effekten; in „INOAH“ Bruno Beltrão und seine hochvirtuosen Matadoren als vibrierendes Tableau seiner krisengeschüttelten brasilianischen Heimat. Den Punkt unter den Reigen personenstarker Gastspiele und zugleich unter das Festival setzte das Tanztheater Wuppertal mit „Neues Stück II“. Auch in Berlin wurde die gut dreieinhalbstündige Kreation des Norwegers Alan Lucien Øyen, vollgestopft mit tragfähigen Bildern und formal durchaus als Fortführung von Pina Bauschs Ansatz zu verstehen, kontrovers aufgenommen. Man hätte Adolphe Binder, Wuppertals inzwischen spektakulär gekündigter Intendantin, einen vollen Erfolg gewünscht.
Als vollen Erfolg darf man indes das Miteinander von großen Theaterkompanien und kleineren Produktionen werten, das ein weiteres Mal Gräben zwischen den Stilen zuschütten half. Und dies nicht auf Kosten der freien Künstler, vom Solisten bis zur Miniformation. Im Gedächtnis bleiben Isabelle Schads intensive Raumkompositionen; Alexandra Bachzetsis‘ dramaturgisch verbesserbare, als Idee überzeugende „Private Songs“; Mal Pelos altersweises Liebesduett sowie die Verknotungen von Felix Mathias Ott & Bahar Temiz im Streben nach maximaler Nähe. Aufwühlend vom Thema her, der Unterdrückung der indischen Minderheit in Südafrika, allerdings entschieden zu lang gab sich „Chatsworth“ von Constanza Macras. Den Preis für furiose Hingabe verdienen die 13 Jugendlichen von fABULEUS aus Belgien für „Paradise Now (1968-2018)“, einen Streifzug durch die Geschichte eines halben Jahrhunderts, Studentenrevolte, Politmorde, Partyrausch, und die Frage, welche Hoffnung uns bleibt. Eigentlich zählen jene beiden letzten Gastpiele von der Personnage schon zu den großen – so fließend waren beim 30. „Tanz im August“ dann doch die Übergänge.
Volkmar Draeger