Rätselhaftes, Brüche auf allen Ebenen, Tableaux gespickt mit Humor. John Neumeiers Uraufführung „Beethoven-Projekt“ zur Eröffnung der 44. Hamburger Ballett-Tage ist ein Überraschungspaket aus drei unterschiedlich originellen Werkteilen. Zu Beethovens Musik aus der Wiener Klassik gesellen sich heutige tänzerische Leidenschaft, Raffinesse in Bewegungsvokabular und Stilebenen sowie eine erstaunliche Vielfalt an choreografischen Ausdrucksmöglichkeiten für Solisten, Paare, Gruppen, im Finale der an den Schluss gestellten „Eroica“ sogar auf die Spitze getrieben.
Es scheint, als habe sich Neumeier in seiner 160. Neukreation unbeschwerter, freier, mit weniger dramaturgischem Gepäck bei der Erarbeitung noch einmal auf neues Terrain gewagt. Er lässt den Abend sehr konkret beginnen, voller biografischer Verweise auf den titelgebenden Komponisten. Die aus Fragmenten gefügten Bilder bricht er jedoch meist schnell wieder, nicht selten ironisch.
Ästhetisch entsteht der Eindruck, manches entwickle sich spontan wie ein Traum. Beim Zuschauer werden Assoziationen geweckt – auch solche, die nicht jeder gut einordnen kann. Vor allem der zeitweise vorherrschende drastisch-impulsive, gar spastisch-automatenhafte Bewegungsfuror der Hauptfigur – mit „ein Tänzer als Ludwig van Beethoven“ ausgewiesen – kann Anlass zu Achselzucken oder Kopfschütteln geben. Bedenkt man Beethovens Verzweiflung über die unabwendbare Ertaubung, erscheint diese extreme Expression als eine Art getanztes „Heiligenstädter Testament“ berechtigt.
Der 26-jährige katalanische Ausnahmekünstler Aleix Martínez verleiht der Beethoven-Rolle überbordende Ausdrucks- und Emotionskraft, im weiteren Verlauf auch innige Lyrik und Versonnenheit. Anfangs liegt er am Boden, um das hintere Bein des Konzertflügels auf der Bühne gewickelt: ein Bild, das sich – mehrfach variiert – auf der Netzhaut einbrennt als untrennbare Einheit des Menschen Beethoven mit seiner Musik. Später kriecht Martínez in den Korpus des Instruments. Vor der Tastatur sitzt Michal Bialk. Er eröffnet das Stück mit den „15 Eroica-Variationen“. Nach und nach dringen Figuren, Fantasien, Ängste aus Beethovens Lebens- und Schaffenskosmos ein: schablonenhaft Edvin Revazov in napoleonesker Herrscherpositur auf rollendem Podest, junge Leute muntere Kapriolen schlagend, Patricia Friza zum „Geistertrio“ irgendwie entrückt.
Stark in die Choreografie hinein weitet sich der Part des Pianisten zur wichtigen Facette der geniehaften Komponistenpersönlichkeit. Als ein elektronisches Streufeuer den 2. Satz der D-Dur-Klaviersonate akustisch durchschießt, hängen Bialks Hände in der Luft. Kurz darauf verschwindet er und überlässt es Martínez, tänzerisch eindrücklich den Gehörverlust zu visualisieren.
Der Klang der Musik entgleitet Beethoven, er wird aus seinem Umfeld gerissen. Neumeier verortet die Musiker des folgenden langsamen Satzes des Streichquartetts Nr. 15 nun komplett im Orchestergraben. Dort versammelt sich dann das Philharmonische Staatsorchester zu Teilen aus Beethovens Ballettmusik „Die Geschöpfe des Prometheus“. Den verzweifelten Tonsetzer auf der Bühne haben zwei Tänzer (Revazov und Anna Laudere) behutsam ins Leben zurückgeführt. Bäuchlings ausgestreckt drückt er seine Wange auf ein Blatt Notenpapier. Dann ein harter Schnitt.
Techniker rumpeln herein zum Szenenumbau. Tänzer dehnen sich an der Brandmauer. Off-Show-Stimmung als Überleitung zum Mittelstück „Intermezzo“, in dem Neumeier das Ballett des Beethoven-Zeitgenossen Salvatore Viganò auf heiter-witzige, verstaubt-altmodische Weise zitiert. Aus Martínezʼ Beethoven wird Prometheus: Neumeiers Faible zu Verschränkung und Vielschichtigkeit. Er holt ein historisches Œuvre zurück in die Gegenwart und lässt darin mit schier kindlicher Faszination „seinen“ Beethoven die eigene Komposition erleben – aus Musikerperspektive (mit dirigierender Hand) und durch die Augen des Prometheus in seiner Ballettrolle. Verflixt kompliziert einfach. Wer hätte gedacht, Werkimmanenz, Erfindungsgabe und Kreation derart aufs Korn genommen zu sehen.
Unnötig geschichtsbeflissen wird das Publikum mit der Projektion eines hübschen Schiller-Zitats über „das Ideal des schönen Umgangs“ auf den Vorhang in die Pause entlassen. Im Nachgang fügt sich der Text zum Rest: „Unzählige Bewegungen, die sich aufs Bunteste durchkreuzen und ihre Richtungen lebhaft und mutwillig verändern und doch niemals zusammenstoßen.“ Genau so wurde die anschließende „Eroica“ von Neumeier choreografiert. Als dunkler Kontrast dient die zum großen Pas de deux für Edvin Revazov und Anna Laudere kondensierte, mysteriöse Götterdämmerung (Marche funèbre). Unmöglich und vom Choreografen wohl gewollt, zumindest unbewusst keine Zusammenhänge zum Vorherigen herzustellen. Zu markant sind seine Gestalten gezeichnet. Virtuos sinfonisch klingt das „Beethoven-Projekt“ aus. Toll kurios, dieser Dreiteiler.
Vesna Mlakar