Ballett Zürich - Winterreise - Filipe Portugal, Yen Han © Gregory Bartadon
Kritiken

Ballett Zürich: Die „Winterreise“ von Ballettdirektor Christian Spuck ist ein Tanz am Abgrund

Einen Zyklus schauerlicher Lieder nannte Franz Schubert seine „Winterreise“, und Wilhelm Müller hatte in ihm in der Tat eine „gleichgestimmte Seele“ gefunden, die seine Gedichte erklingen ließ. 1993 legte Hans Zender Hand an dieses Meisterwerk des deutschen Kunstlieds. Seine komponierte Interpretation (für Tenor und kleines Orchester) dringt tief ein und legt das ganze Verstörungspotential dieser 24 düsteren, himmeltraurigen Lieder frei. Rhythmische Akzentuierungen und klirrende Klänge machen diesen Liederabend der anderen Art aber attraktiv für den Tanz.

So ist Christian Spuck auch nicht der erste Choreograf, der sich, zum Auftakt seiner siebten Saison in Zürich, daran wagt, Liebesschmerz und Todessehnsucht eines zerrissenen lyrischen Ichs auf die Bühne zu bringen, und zwar – fast schon schweizerisch-basisdemokratisch – mit der ganzen Kompanie. Dass Spuck richtig gut Geschichten erzählen kann, hat er bereits in Stuttgart bewiesen. Dass er Sänger, Tänzer und einen riesigen Chor zu einem bewegt-bewegenden Ganzen inszenieren kann, davon zeugt Verdis „Messa da Requiem“ (2016). Wer aber ein ähnlich spartenübergreifendes Miteinander erwartet, gar einen Pas de deux zwischen dem Sänger und einer Tänzerin, sieht sich enttäuscht, denn die Sphären bleiben getrennt. Zudem vermeidet Spuck erklärtermaßen alles Illustrative und jede Art von Narration, was nicht jede szenische Metapher entschlüsselbar macht.

So verharrt der junge, südafrikanische Tenor Thomas Erlank, der anstelle des erkrankten Schweizers Mauro Peter sein gelungenes Debüt in Zürich gab, meistens im Orchestergraben, neben Emilio Pomàrico, der die sichtlich inspirierte Philharmonia Zürich dirigiert. Währenddessen entfalten sich auf der düsteren – Nun ist die Welt so trübe – Bühne (Rufus Didwiszus) kaleidoskopartige Szenen – Der Weg gehüllt in Schnee. Grossartige Gruppenkonstellationen kontrastieren mit Individuen, die schlicht – Die Liebe liebt das Wandern – den Wänden entlang gehen, unentwegt dem Ende entgegen. Darunter Yen Han, die langjährige Solistin, mit Augenbinde und Krähe (ein wunderliches Tier!) in der Hand – eine Todesbotin? Die Vertiefung auf der Bühne ein Grab auf dem Totenacker? Dem Menschen entsteigen und darin versinken? Abgründe tun sich auf. Dazwischen leider auch endlos lange und ziemlich gleichförmige Pas de deux, welche des Elenden Sehnsucht nach seinem verlorenen Fein Liebchen ausdrücken. Immerhin ist das eine Gelegenheit für alle, ihre tänzerischen Qualitäten in wechselnden Konstellationen auszuspielen. Die Männer überzeugen durchweg, die Frauen ragen heraus: altgediente Solistinnen wie Katja Wünsche und Elena Vostrotina, die neue von der Pariser Oper, Eléonore Guérineau, aber auch junge Gruppentänzerinnen wie Meiri Maeda und Aurore Lissitzky.

Ryott in ungewohnter Schlichtheit. Viel Grau und Schwarz, unisex bis fast nackt. Männer auf Stelzen, ihre Bürde tragend, und Frauen in Rollkragenpullovern. Besonders abwechslungsreich ist das Schuhwerk: von elegant bis klobig, von demi-pointe bis zu dezent, aber effektvoll eingesetztem Spitzentanz. Dem Ballett Zürich ist jedenfalls ein stil- und trittsicherer Saison-Auftakt gelungen. Und seinem Ballettdirektor sei zu seinem Mut und der Ernsthaftigkeit in der Umsetzung dieser „Winterreise“ gratuliert.

 

Evelyn Klöti