Das Dortmunder Ballett mit Alexander Ekmans „Ein Mittsommernachtstraum“
Eine Allergiker-Info fürs Ballett hatten wir auch noch nicht: „Auf der Bühne wird als ‚Heu’ das anti-allergene Raffia-Bast verwendet“, heißt es auf der Webseite des Dortmunder Balletts, das für zwei Aufführungen mit seinem unbedenklichen Heu im Forum am Schlosspark in Ludwigsburg gastierte, und mit dem zugehörigen Tanzstück, Alexander Ekmans „Mittsommernachtstraum“. 2015 hatte der Schwede den turbulenten, surrealen Abendfüller in Stockholm uraufgeführt, 2020 feierte das Stück in Dortmund Premiere und läuft immer noch mit großem Erfolg. Bei Ekman bekommt man als Zuschauer meist das volle Programm: Er setzt die ganze Bühne samt Versenkungen und Orchestergraben in Bewegung, flutet sie mit kleinen grünen Bällen oder 6000 Litern Wasser, er reicht in den Zuschauerraum hinaus, überrascht und konfrontiert sein Publikum. Am besten kennt man ihn vom allüberall gespielten „Cacti“, dem Ballett mit den stachligen Sukkulenten in Tänzerhänden.
Alle Fotos: © Leszek Januszewski
Im „Mittsommernachtstraum“ fliegt das Heu in hohen Bogen und leuchtet unter einer großen Lampensonne wie schwebende Materie, ein tolles Anfangsbild. Der feste Boden ist verschwunden, fluffige helle Wolken wogen um die 30 herumtollenden Tänzer. Unter einer digitalen Anzeigetafel mit Datum und Uhrzeit, es ist der 20. Juni 2014, zeigt Ekman die abendliche Feier vor dem Mittsommertag in Schweden – mit großen Heuballen, einem hohen Mittsommerbaum mit dreieckiger Spitze, mit Blätterkränzen auf den Köpfen, einem Partyzelt und Grill, mit einer langen Tafel samt Kerzenleuchtern – und mit ausgelassenen, ein wenig harmlosen Tänzen um den Baum, auf den Heuballen, auf dem Tisch.
Musiziert wird live, ein Streichquartett, eine Pianistin und ein Schlagwerker sitzen hinten auf der Bühne und spielen Mikael Karlssons folkloristische Rhythmen. Immer wieder singt Hannah Tolf, die einsam durchs Geschehen wandelt, entrückte Gesänge, die ein wenig nach Björk klingen. Irritierende Momente gibt es durchaus in diesem fröhlichen Fest, manchmal gerät die Zeit ins Stocken, die Bewegung friert ein oder findet nur noch in Zeitlupe statt. Einmal posiert das gesamte Ensemble mit seinen Weingläsern vorn an die Rampe und schaut uns stumm an, als wollten sie unsere Erwartungshaltung herausfordern, dass immer was passieren muss auf der Bühne. Feixend stimmen sie ein schwedisches Liedchen an und zünden zu unserer Bespaßung die winzigste aller Feuerwerksraketen. Dann geht das Gelage weiter, bis der Träumer, dessen Aufwachen bei zartem Vogelzwitschern den Abend eröffnete, wieder in sein Bett steigt. Natürlich mit dem Blumenstrauß unterm Kopfkissen, der dem alten Brauch nach zum Traum von der Liebsten führen soll.
Das klappt nicht ganz, denn in der Mittsommernacht stehen die Tore zum Übernatürlichen offen, und im zweiten Akt schlägt die Geisterwelt dann mit voller Wucht zu, mit einer nächtlichen Revue surrealer Traumbilder. In einer rasanten, dichten Folge pratzeln diese auf den herumirrenden Träumer ein: kopflose Anzugträger, Trolle mit Strohmänteln, ausgestopfte Menschenpuppen, die mit den Lebenden tanzen oder durch die Luft geworfen werden. Der ziemlich nackte Koch dreht pikiert Piqués auf Spitzenschuhen, dann hebt die überlange Tafel samt Tischgästen nach oben ab, wo des Träumers Bett bereits an der Decke schwebt. Fische fallen vom Himmel oder fahren in überdimensionaler Größe über die Bühne, die Tischdecken werden zu Geisterwesen und Bäume wachsen vom Himmel herab. Es ist ein wilder Bilderbogen, der nicht nur in seiner absurden, immer irrer werdenden Imaginationskraft staunen macht, sondern auch in der bühnentechnischen Verwirklichung, zumal die Produktion hier als Gastspiel gezeigt wird. Aber auch in Ludwigsburg sinken lebende Tableaux in den Orchestergraben und neue steigen von unten hoch.
Auch getanzt wird nun endlich mehr, statt im harmlosen Volkstanzstil in einem deutlich ballettöseren, sanft dekonstruierten Nach-Forsythe-Idiom. Ekmans Spezialität sind Unisono-Szenen fürs gesamte Ensemble, wenn alle Stroh werfen, wenn alle am Boden zucken oder wenn, besonders schön und geheimnisvoll, alle Frauen in weiten Hemden und mit offenen Haaren auf Spitze umeinander kreisen. „Theatertraum“ verkündet uns ein Schild, dann trippeln eng hintereinander zwei raupenartige Polonaisen aus fast nackten Körpern herein, prallen gegeneinander und vereinen sich wie auf dem Exerzierplatz zu einer langen Reihe. Ein Paar, sie im Tutu, demonstriert einen „Fisch“, jene aus dem „Dornröschen“-Schluss berühmte Pose mit der nach unten gekippten Ballerina – und dann sammeln sie, Kalauer für Eingeweihte, sehr würdevoll einen Fisch vom Boden. Die Tänzer untermalen ihr Gliederzucken mit Ploppen des Mundes, sie streiten in einer Fantasiesprache, den Einfällen Ekmans sind keine Grenzen gesetzt. Seiner choreografischen Originalität durchaus, aber was tut’s bei so viel Überwältigungstheater. Hätte Pina Bausch einen Hang zur Comedy gehabt, dann wäre vermutlich das dabei herausgekommen. Die Träume der Mittsommernacht sind jedenfalls in Schweden sehr viel wilder als in den „Sommernachtsträumen“ à la Shakespeare. Zum Schluss liegt der Schläfer wieder in seinem Bett, die digitale Uhr rast vor ins Jahr 2015 zur nächsten Begegnung mit unserem Unterbewusstsein – warum sollten wir uns mit dem normalen Leben aufhalten?
Angela Reinhardt