Das große Glück zum Abschied beim Tanztheater Ulm
Angekommen? Gestrandet? Am Ziel? Am Ende aller Irrungen und Wirrungen der gewählten und der nicht gewählten Lebenswege?
Von Beginn an stellt der neue Abend des Tanztheaters Ulm unter dem Motto „Abendliche Tänze“ von Reiner Feistel mit der großartigen Kompanie vor allem Fragen. Und das ist auch gut so. Gäbe es mögliche Antworten, dann wohl vor allem in den Gedanken und Erinnerungen der Zusehenden, deren Horizonte individueller Wahrnehmung sich dadurch weit öffnen. Und so durchzieht eine Abfolge schönster Glücksmomente diese abendlichen Tänze.
Da sind zunächst vor allem drei Kompositionen, die jeweils höchste Anforderungen an das Orchester stellen. Ganz zu schweigen von denen an den tänzerischen Dialog in optischer Korrespondenz zu räumlichen Assoziationen des choreografischen Zusammenklanges.
Fotos: Sylvain Guillot
Der Dirigent Felix Bender vermag es so grandios wie einfühlsam, dabei in höchster Aufmerksamkeit für den Tanz, die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters der Stadt Ulm bei der Auswahl so anspruchsvoller Werke zu führen. Unterschiedlicher können sie kaum sein, vor allem in die ergänzenden Dialoge der Klänge und des Tanzes. So werden selbst bei betörenden Passagen außerordentlicher Klangschönheit auch Widersprüche hörbar. Zudem beschreitet diese Folge der drei Kompositionen einen Weg, dem es ja auch an klangexistenziellen Untiefen nicht fehlt. Was mit Sergej Rachmaninows sinfonischer Dichtung, „Die Toteninsel“ – inspiriert durch das Gemälde von Arnold Böcklin – beginnt, geht bei hoher Sensibilität des Streicherklanges über in Charles Ives kurze Komposition mit programmatischem Titel, „The Unanswered Question“. Nach der Pause, in gänzlich anderen Dimensionen der Klänge, die „Vierte Sinfonie“ von Gustav Mahler. Im letzten Satz kommt die menschliche Stimme hinzu. Das Sopransolo der wunderbaren Solistin Maria Rosendorfsky mit einem Lied aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“. Der Gesang auf den Genuss „himmlischer Freuden“, was aber hier, der Tanz macht es möglich, ganz irdisch zu verstehen ist.
Frank Fellmanns Raumkomposition im Licht von Marcus Denk und Grebing ist zunächst in gewisser Anlehnung an Böcklins Gemälde die bildhafte Assoziation einer Insel. Unübersehbar, hier aber die Boote angekommener Menschen, deren Entscheidung aussteht: Bleiben oder Ablegen. Dann, zu den Klängen nicht zu beantwortender Fragen menschlicher Existenzen, leuchtet eine ferne Landschaft auf. Das Licht ist trügerisch. Zu Gustav Mahlers Musik kann sich die Landschaft verdunkeln, unergründliche Weite und Tiefe assoziieren, und doch gleich darauf wieder üppig blühende Zeichen der Hoffnung setzten. Und dennoch, bald werden sich über den Tänzerinnen und Tänzern, zum Gesang jener „Himmlischen Freuden“, nur für sie einsehbare Bücher an seidenen Fäden senken. Darüber dann, in dunkler Bedrohlichkeit, ein alle und alles umschließendes Haus. Angekommen, zu Hause? Oder, auch das ist möglich, noch einmal davon gekommen? Der Vorhang senkt sich. Der Tanz geht weiter. So bleiben diesen abendlichen Tänzerinnen und Tänzern alle Wege offen.
Tänzerisch überzeugen die vier Tänzerinnen und fünf Tänzer dieses Tanztheaters von Reiner Feistel vor allem durch die hohe Sensibilität ihrer sehr individuellen Musikalität, die jeweils übergeht in die bewegende Melodik der Körper.
Berührend erwachen die Bewegungen aus Stille und Dunkel, werden zu intensiven Dialogen der Einzelnen, untereinander oder mit der Gruppe. Immer wieder ergeben sich tänzerische Bewegungen individuellen Widerstandes, auch im Übergang zu Szenen der Heiterkeit, des Humors, faunischer Freude, vor allem großer Lust am Spiel. Wer hat hier den Hut auf, wer trägt den Rock, wer hat die Hosen an. Auf Momente des tänzerischen Überschwanges folgen auch jene der stillen Poesie des Abschiedes, in tänzerischer Auseinandersetzung mit sich selbst. Als verinnerlichten sie die Ferne der Landschaft im Dialog mit den Klängen, gerade bei Mahlers Musik, mit den Erkundungen eigener Landschaften persönlicher Existenzen. Immer aber, das ist bestimmend für diese abendlichen Tänze, geerdet, auf bloßen Füßen. Und immer wieder Humor, etwa wenn Tänzerinnen und Tänzer, jeweils bei feinstem Augenzwinkern, einander die Räume überlassen. Mitunter aber, in so berührenden wie verstörenden Bildern der sich aufreihenden Gruppe, kommen Erinnerungen an steinerne Bilder mittelalterlicher Totentänze. Hier aber lösen sie sich auf, in Tänze des Lebens, jener abendlichen Tänze eben, mit denen sich nach fünf Jahren Reiner Feistel als Direktor des Tanztheaters Ulm verabschiedet: Und wie geschähe dies besser, als in der Poesie des Zusammenklanges der Musik, des Tanzes und der Räume in wechselndem Licht, immer im Sinne jener letztlich nie zu beantwortenden Fragen, wer bin ich, wer bist du, bist du ich, bin ich du, wer und was sind wir.
Fragen, wie geschaffen für den Tanz, denn der Tanz gibt letztlich keine Antworten, sonst begänne der Stillstand. Ja natürlich, auf die Tänze des Abends und des Abschieds folgen die des Morgens und des Neubeginns, auch beim Tanztheater in Ulm.
Boris Gruhl