Wie die russische Tageszeitung Iswestia gestern am 15. November meldete, wird Valery Gergiev, Generaldirektor des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg, nun auch Direktor des Moskauer Bolschoi-Theaters. Der international renommierte Dirigent wird dort Vladimir Urin ersetzen, der seit 2013 das Bolschoi als Direktor leitet. Nach den Worten von Iswestia wird „Urin seinen Posten aus freien Willen verlassen“.
Laut der Meldung soll der 70-jährige Gergiev die Leitung des Bolschoi-Theaters mit der Leitung des Mariinsky-Theaters und -Orchesters kombinieren. In russischen Kulturkreisen wird diskutiert, dass sich mit der einheitlichen Leitung der beiden großen Theater die frühere Direktion der beiden „kaiserlichen Theater“ im 19. Jahrhundert unter den Zaren wiederholen wird, auch wird es wohl Übernahmen von Produktionen und damit eine gewisse Gleichschaltung geben. Gergiev hat das Mariinsky seit 1988 zu einem Imperium samt einer zweiten großen Bühne, einem Konzertsaal, einem eigenen Label und einer Streaming-Plattform ausgebaut. Seit 2016 gehört auch das Opernhaus in Wladiwostok zum Mariinsky-Theater und steht unter Gergievs Leitung, seit 2017 auch das Opernhaus in Wladikawkas in Nordossetien. Durch den russischen Überfall auf die Ukraine verlor der treue Putin-Gefolgsmann Gergiev seine diversen Leitungspositionen in westlichen Ländern, u.a. in Rotterdam und bei den Münchner Philharmonikern. Er kann seitdem keine Gastspiele mehr geben, weder als Dirigent noch mit seinem Mariinsky-Orchester, dessen einzige Tourneen derzeit noch nach China führen.
Was der Direktionswechsel für die berühmte Ballettkompanie bedeutet, ist noch nicht abzusehen; Gergiev hat nach allgemeiner Auffassung seit Jahren die Bedeutung des Mariinsky-Balletts am Haus gegenüber der von ihm selbst geleiteten Oper verringert und hatte die Kompanie vor allem zum Geldverdienen für seine Opernprojekte auf Tournee geschickt. Dort wird vor allem Repertoire gezeigt, es gibt nur selten neue Stücke oder neue Choreografen.
Makhar Vaziev, seit 2016 Direktor des Bolschoi-Balletts, hatte von 1995 bis Juni 2008 das Mariinsky-Ballett geleitet und trennte sich nach Konflikten mit Gergiev von der Kompanie, wo er durch den damaligen Ballettmeister Yuri Fateev ersetzt wurde, der als reiner Befolger von Gergievs Anweisungen gilt. Vaziev hatte die St. Petersburger Kompanie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs für moderne Choreografie aus dem Westen geöffnet, hatte Werke von George Balanchine, Hans van Manen, John Neumeier, Kenneth MacMillan, Roland Petit oder William Forsythe geholt. In seine Ägide fällt auch der Beginn der Ballettrekonstruktionen von Sergei Vikharev, den Vaziev regelmäßig mit weiteren großen Produktionen beauftragt hatte. Unter Fateev bzw. Gergiev wurden die Rekonstruktionen in St. Petersburg wieder weitgehend aus dem Programm genommen. Auch als Direktor des Bolschoi-Balletts hat Vaziev moderne Ballettchoreografen aus Westeuropa geholt, so mehrere Werke von John Neumeier. Er gab auch immer wieder moderne Uraufführungen in Auftrag, so den umstrittenen „Nurejew“ von Kirill Serebrennikov und Yuri Possokhov, „Orlando“ von Christian Spuck oder „Der Meister und Margarita“ von Edward Clug. Gergiev dagegen bevorzugt die alten Klassiker, auf die sich das Bolschoi-Ballett nach Wegfall zahlreicher Lizenzen westeuropäischer bzw. amerikanischer Choreografen inzwischen ohnehin wieder beschränken muss. Die Öffnung des russischen Balletts für ein modernes Repertoire, die erst nach Glasnost um 1990 begonnen hatte, scheint also wieder zu Ende zu gehen. Sowohl in St. Petersburg wie in Moskau versucht man nun in allen Kompanien, so auch am Stanislavsky-Ballett, junge russische Choreografen aufzubauen.