Professionelles Niveau oder chronische Überbelastung?
Etwa zwei Drittel aller Tanzverletzungen sind auf eine Überbeanspruchung zurückzuführen, so Jacqui Greene Haas in ihrem Buch „Dance Anatomy“. Diese Tatsache verwundert kaum, schließlich trainieren Tänzerinnen und Tänzer regelmäßig über ihre Belastungsgrenze hinaus. Mehrere tanzmedizinische und sportwissenschaftliche Studien aus den vergangenen Jahrzehnten zeigten ebenfalls, dass Tänzerinnen und Tänzer besonders anfällig für Übertraining sind.
In der Trainingswissenschaft bezeichnet Übertraining den Zustand, in dem über einen kontinuierlichen Zeitraum die Trainingsbelastung gleich hoch bleibt, das Leistungsniveau jedoch stetig sinkt. Im Grunde ist es ein Zustand extremer körperlicher Überlastung.
In der „Trainingsbibel für Triathleten“ schreibt Joe Friel: „Um diesen bedauernswerten Zustand [Übertraining, TB] zu erreichen, muss man so extrem motiviert sein, dass man auch angesichts merklicher Anzeichen nachlassender Gesundheit und überwältigender Erschöpfung immer weitertrainiert.“ Teils erschrocken, teils resigniert musste ich feststellen, dass Tänzerinnen und Tänzer genau das überwiegend tun. Nur müsste „extrem motiviert“ ergänzt werden durch unablässigen Leistungsdruck aufgrund von:
- Auditions
- Befristeten Verträgen
- Prüfungen
- Proben
- Vorstellungen
- Konkurrenzdruck
sowie die altbekannte Weisheit „dance through your pain“, die, einmal inhaliert, sich bis in die kleinste Alveole der Lunge ausbreitet und dort hartnäckig festsetzt.
Problematisch ist es allerdings, dass es dennoch nicht so einfach ist, die Diagnose Übertraining zu stellen. In der Tanzmedizin spricht man von einem Ursachenkomplex, da viele Faktoren meistens im Zusammenspiel zu Übertraining führen. Die Symptome sind oft individuell, manchmal widersprüchlich (Appetitlosigkeit und Heißhunger) und äußern sich häufig durch Erschöpfung, Technikverlust, sinkende Leistung, Schlafstörungen und Verletzungen. Sie sind jedoch nicht sehr spezifisch und können auch andere Gründe haben. Es müssten also zunächst andere Ursachen und Erkrankungen ausgeschlossen werden, bevor Übertraining in Betracht kommt.
Wie also lässt sich Übertraining vermeiden? Leichtes Training kann pauschal nicht die Lösung sein und ist auch realitätsfremd. Schließlich ist eine progressive Überbelastung eines der Kernprinzipien für den Aufbau von Fitness und für die Steigerung des Leistungsniveaus. Der Körper muss also in einem bestimmten Zeitraum einer hohen Trainingsbelastung ausgesetzt sein, um Muskelkraft, Koordination, Muskelausdauer und Technik zu erarbeiten. Es kommt demnach auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Belastung und Regeneration im Training an.
Eine ausgewogene Trainingsplanung oder ein periodisiertes Tanztraining schaffen die besten Voraussetzungen, um den Körper nicht einer chronischen Überlastung auszusetzen. Matthew Wyon stellt dabei folgende Aspekte aus seiner Forschung im professionellen Tanztraining heraus: Innerhalb eines Trainingszeitraums von mehreren Wochen müssen sich der Stundenumfang und die Trainingsintensität abwechseln zwischen Phasen der Belastung und der Entlastung. Auch ein einzelner Trainingstag sollte nach diesem Schema aufgebaut sein, damit kein „working overload“ entsteht. Unmittelbar vor einer Performance sollte der Trainingsumfang ebenfalls heruntergefahren werden, um eine optimale Leistung auf der Bühne erbringen zu können. In einem periodisierten Tanztraining kommt es auf Qualität statt Quantität an. Diese Trainingsplanung verlangt viel Austausch zwischen allen Beteiligten und muss regelmäßig an die Tänzerinnen und Tänzer angepasst werden.
Die Verantwortung liegt also nicht nur bei den Tänzerinnen und Tänzern selbst, sondern auch bei Pädagoginnen und Pädagogen, Choreografinnen und Choreografen. Denn sie haben nicht nur die Aufgabe, herauszufordern und zu motivieren, sondern müssen auch das Risiko gut einschätzen können und ihre Trainings- und Probenplanung dementsprechend gestalten.
Es ist wie ein Tanz auf der Rasierklinge, das richtige Maß an gesunder und effektiver Trainingsbelastung zu finden, aber diese Weitsicht und methodische Planung lohnt sich für die Tanzszene und das Publikum.
Tatjana BASOW