Ballet Preljocaj © Jean-Claude Carbonne
Kritiken

Sterbende Schwäne in zerstörter Natur

Angelin Preljocajs „Schwanensee“ gastierte in Deutschland

 

Wenn man den Schluss von Angelin Preljocajs „Schwanensee“ betrachtet, dann ist das alte Ballettmärchen wirklich brandaktuell: Die weißen Schwäne gehen am Ufer ihres ausgetrockneten, durch Öl verschmutzen Sees einfach ein, sie winden sich sterbend am Boden, verenden genau wie Odette und der Prinz mit der vom Menschen vernichteten Natur.

Das starke Schlussbild krönt eine plausibel ausgedachte, aber ein wenig abstrakt umgesetzte, gesellschaftskritische Deutung des Choreografen aus Aix-en-Provence, uraufgeführt wurde sie vor drei Jahren. Mit seiner klassisch grundierten, aber zeitgenössisch geerdeten Kompanie gastierte Preljocaj zum Abschluss der diesjährigen Tanzreihe im Forum am Schlosspark in Ludwigsburg. Seine im schwarzweißen Kontrast gehaltene und von düsteren Weltuntergangsprojektionen begleitete Fassung verlegt die alte Märchenhandlung konsequent ins Heute: Der Prinz ist ein Industriellensprössling, seine kalten Eltern wollen den sensiblen Sohn aufs Geldverdienen einnorden, wozu als Erfüllungsgehilfe Rothbart mit seinen Schlägern eingesetzt wird. Dass die weiß gekleidete Odette eine Umweltaktivistin ist, erfährt man allerdings nur aus der Inhaltsangabe. Sie erlebt anfangs zur Ouvertüre ein Trauma, weil ihr Rothbarts Schergen Gewalt antun, dabei verwandeln sie ihre Kleidung in ein Schwanenkostüm; die dunkeln Projektionen von Boris Labbé gerinnen dazu sekundenlang zu Schwanenflügel. Seine realen und surrealen Videobilder in düsterstem Aschgrau prägen den Abend stark, mit wachsenden und wieder zerfallenden Wolkenkratzern oder einer riesigen Raffinerie. Im Schwanenbild scheint die Natur im diesigen Sonnenlicht wie in einem De Profundis nach oben zu rufen. Der Schwanensee ist hier ein bedrohtes Naturparadies, manchmal sieht man in den wogenden Bäumen noch einen letzten Hauch von Farbe.

Fotos: © Jean-Claude Carbonne

Tschaikowskys Musik bleibt mit sehr großen Kürzungen weitgehend in der bekannten Reihenfolge, der Choreograf nahm sich das, was er brauchte und ließ von seinem langjährigen Musikzulieferer 79D düstere Akkordfolgen oder auch grelle Techno-Beats dazwischenschalten. Preljocaj reduziert das lange Ballett zwar auf zwei pausenlose Stunden, aber er reduziert nicht aufs Wesentliche – auch nachdem er die umweltzerstörende Firma und die Luxusgesellschaft tanzend geschildert hat, gibt es immer noch reichlich Divertissement-artige Gruppen: Kellner, Büroangestellte, italienische und spanische Reiche zu den Nationaltänzen des dritten Aktes. Das war in Matthew Bournes „Swan Lake“, einer ebenfalls komplett ins Heute verlegten Version des Klassikers, wesentlich stringenter gelöst, da gehörte jeder Tanz zur Handlung und erläuterte die Leiden des Prinzen, die Kälte der Gesellschaft.

Unter den vielen Gruppenszenen Preljocajs beeindruckt eine mit der gesamten Kompanie auf Stühlen, wie sie in perfektem Unisono und frontaler Demonstration nach vorne einen unbarmherzigen Tanz der Arme und Beine absolviert: eine homogen funktionierende Gesellschaft ohne störende Individualisten. Danach bricht dieselbe Gesellschaft zu wilden Techno-Beats in Zuckungen aus, an der Wand zerstäuben die Aktienkurse ins Nichts. Unter den immer wieder starken Videobildern herrscht auf der Bühne eine elegante, aber kühle Ästhetik, die durch die modisch-distanzierte Coolness der Kostüme von Igor Chapurin noch gesteigert wird.

Dagegen hätte die Sprache der Schwäne und Ökorebellen eigentlich anders und vielleicht weicher, freundlicher aussehen müssen, aber auch das Kollektiv der verzauberten Widerständler tanzt vom Stil her ähnlich, nur werden hier die geraden Linien immer wieder zerstört und in runde, weit ausgebreitete Gruppenstrukturen zerstreut. Als Choreograf liebt Preljocaj die langen Linien und hat seinen elegant-abstrakten Stil aus der Reinheit der Klassik entwickelt. Die Frauen tanzen aber durchweg barfuß und erheben sich nur selten auf die halbe Spitze. Die gerundeten Arme des akademischen Tanzes sind verschwunden, entweder werden die Arme hinausgestreckt oder abgewinkelt, der Port de bras sieht oft aus, als gäben die Signale. Preljocaj ist auch kein Erzähler im Sinne eines Cranko oder Neumeier: Seine Dramaturgie wirkt verständlich, aber die Figuren bleiben Chiffren, sogar die hin- und hergerissene Mutter des Prinzen (Beatrice La Fata). Einzig Siegfried, der sensible Leonardo Cremaschi, und die immer wieder aus dem Schwanenkollektiv auftauchende Odette wirken wie echte, leidende Menschen. Isabel García López tanzt auch die raffinierte, puppenhafte Odile, die vollkommen im Dienste ihres gewinnorientierten Vaters Rothbart (Victor Martínez Cáliz) steht. Genau wie sein südfranzösischer Kollege Jean-Christophe Maillot liebt auch Preljocaj ein schickes Setting für seine Werke; seine Kompanie interpretiert das Werk hingebungsvoll und dort, wo der Choreograf ihnen die Möglichkeit eröffnet, durchaus mit starken Porträts.

Angela Reinhardt