Tschaikowskis „Schwanensee“ ist abgrundtief. Dieser Komponist ließe sich nur verstehen, wenn man die musikalischen Korrespondenzen mithöre, die sich zwischen der Welt des Schwanensees und dem letzten Satz der „Pathétique“, der VI. Sinfonie, wahrnehmen lassen, so Rüdiger Görner in seiner Essaysammlung „Literarische Betrachtungen zur Musik“. Görner verweist darauf, dass man eben auch in dieser Ballettmusik etwas vernehmen könne, von den existenziellen und künstlerischen Zerreißproben, denen der Komponist ausgesetzt war, was sich darin ausdrücke, wie er das Leichte, das Spielerische und das Ernste in einen klingenden Dialog führe. Es lohne, in diese Musik einzudringen, in diesen „Tanz wunder Seelen“.
Zu diesem „Tanz wunder Seelen“ bekennt sich John Cranko in seiner Fassung des Balletts, die 1963 in Stuttgart uraufgeführt wurde, seitdem einen Höhepunkt des weit gespannten Repertoires hier bildet, und nun erstmals außerhalb von Stuttgart, beim Ballett des Prager Nationaltheaters, eine stürmisch bejubelte Premiere feierte.
Cranko hält sich an wesentliche Vorgaben der St. Petersburger Fassung von 1895, von Lew Iwanov und Marius Petipa. Er stärkt aber den erzählerischen Charakter der Handlung um den jungen Prinzen Siegfried, der offensichtlich wohl nicht ganz von dieser Welt ist. Dabei bricht Crankos Art, die Handlung, im wesentlichen, in den Akten eins und zwei, in einen erzählerischen Fluss zu bringen, nicht gänzlich mit Petipas pantomimischen Traditionen, stellt sie aber in einen dramaturgischen Zusammenhang. So werden auch die wunderbaren Divertissements im ersten, wie der grandios getanzte Pas de six, besonders im dritten Akt die Nationaltänze, in die Handlung verwoben.
In den Akten zwei und vier, den berühmten weißen Bildern, in den so genialen tänzerischen Verschmelzungen klassischer Bewegungselemente der Musik mit dem Raum, lassen sich schon starke, zukunftsweisende Visionen erkennen, wie sie später, im 20. Jahrhundert, die Kunst des sinfonischen Balletts prägen werden. Insgesamt aber gelingt es in dieser Fassung die Handlung niemals zugunsten tänzerischer Paradestücke aus den Augen zu verlieren. Auch in den weißen Bildern, in den Korrespondenzen der Handlungsträger, Siegfried und Odette, hat man den Eindruck, dass hier die inneren Welten der beiden Menschen in den Visionen des Tanzes die Horizonte des Alltags sowohl in schmerzvoller, als auch in glücklicher Weise aufbrechen.
Tschaikowskis sehnsuchtsvolle Motive erfahren ihre bewegte Spiegelung in den wiederkehrenden Motiven der weichen Bewegungen, dem Flattern der Arme, den Händen, die eben nicht unentwegt in die Höhe weisen, nicht auch zuletzt dadurch, dass man immer wieder mitfühlende Reaktionen der Tänzerinnen wahrnehmen kann, die sich auf die jeweilige Situation Liebenden beziehen.
Das alles wird in der Prager Neuinszenierung bestens vermittelt durch die tänzerische Kraft der Kompanie, sowohl in den solistischen Partien als auch in den großen Bildern der Gruppen, der Brillanz der im ganz positiven Sinne den Tanz in seinen raffinierten Varianten feiernden Kunst beglückender Augenblicke des Staunens. Crankos Prinz Siegfried scheint sich immer wieder so stark in seinen inneren Sehnsuchtsbildern zu bewegen, dass er scheinbar gar nicht wahrnimmt, was um ihn herum geschieht. So, wenn ihm die Bilder möglicher Bräute präsentiert werden oder ein rauschendes Fest zu seinen Ehren gegeben wird mit den schönsten Prinzessinnen, aus Polen, Italien, Spanien und Russland.
Nicht gerade ein Ritter von der traurigen Gestalt ist dieser Prinz, aber etwas hat er schon von jenem Don Quixote, der immer wieder seinen Visionen folgt, zumal auch der Tänzer Alexandre Katsapov so herrlich in humorvoller Charakterkunst als Erzieher des Prinzen hier schon mal wie ein Seelenverwandter Sancho Panzas wirkt. Und so folgt der Prinz den Schwänen, die in einer Projektion des Lunchmeat Studios s.r.o. am Horizont vorüber ziehen, wahrscheinlich ist er auch der einzige, der sie sieht.
Und am Schwanensee, eigentlich ja ein kleiner Teich in der Nähe der Sächsischen Stadt Zwickau, erblickt er sie, Odette, seine in einen Schwan verwandelte Prinzessin, sein weißer Traum. Dass er sich dann, auf dem Fest im dritten Akt, in ihr schwarzes Gegenbild verlieben wird, wenn Marek Svobodník als Rotbart seine Tochter Odile, die der Odette so gefährlich ähnelt, ist in dieser klugen Interpretation wohl nicht allein der verwirrenden Verwechslung eines Augenblickes geschuldet. Denn hier nimmt das Drama seinen Lauf für diesen jungen Mann, der bald erkennen muss, dass nicht alles, was dem Auge und dem Herzen weiß erscheint auch wirklich nur so unbefleckt ist. Und hier muss man einfach mit höchster Bewunderung festhalten, dass mit der Prager Tänzerin Alina Nanu eine grandiose Künstlerin diesen unterschiedlichen Facetten Ausdruck zu geben vermag, dessen Faszination man sich nicht entziehen kann. Sie hat als Odette die melancholische Leichtigkeit, das Schwebende, das Traumhafte, eigentlich Unwirkliche, als wäre sie den Traumwelten dieses junge Mannes entschwebt. Als Odile hat sie dann die tänzerische Brillanz der Unerbittlichkeit und entführt den jungen Träumer so in ganz andere Welten, die er bislang nicht mal im Traum betreten haben dürfte. Alina Nanus tänzerische Technik ist brillant. Zum Selbstzweck wird sie nie. Ob sie schwebt, ob sie energisch auftrumpft, oder am Ende dann in berührender Zartheit der Bewegungen verlischt. Immer gilt emotionaler Bewegtheit im Dialog mit der Musik, in der Korrespondenz mit dem Partner oder mit den Reaktionen der Tänzerinnen in den weißen Bildern, der Vorrang. Nikita Chetverikov ist der Prager Prinz Siegfried in der Premiere. Beste Technik auf jeden Fall. Was aber die rollenimmanente, individuelle Kraft des Ausdrucks angeht, da dürfte sich noch eine Entwicklung einstellen.
Ganz wunderbar die weißen Bilder. Die 24 Tänzerinnen der Schwäne, die großen und die kleinen, natürlich zur ungetrübten Freude des Publikums in so gut wie schwebender Leichtigkeit das Allegro moderato, Pas de quatre, Tanz der vier kleinen Schwäne. In der großen Gruppe, natürlich die symbolischen Varianten der Kreise und Linien. Aber nie gezirkelt, keine mit dem Lineal gezogenen Reihen.
John Crankos „Schwanensee“ gibt es im Prager Nationaltheater zudem in neuer Ausstattung von Martin Černý mit Kostümen von Josef Jelínek im Licht von Pavel Dautovský. Ein Gesamtkunstwerk romantisierenden Nachklangs, eine farblich stimmungsvolle Optik in bester Korrespondenz zur Musik, gespielt vom Orchester der Staatsoper unter Leitung von Václav Zahradník, die sich mit dem Tanz verbindet.
Am Ende fliegen die Schwäne zurück, die Wellen schlagen hoch, keine Chance für Siegfried, noch einmal die Begegnung mit Odette, unter strenger Bewachung Rotbarts, dann fliegt sie davon, über dem Prinzen schlagen die Wellen des Schwanensees zusammen.
Boris Gruhl