Nicht ganz so rauschend, wie sie es verdient hätte, feierte die renommierte Stuttgarter Ballettakademie ihr 50-jähriges Jubiläum, pandemiebedingt war das Opernhaus nur zur Hälfte mit Zuschauern besetzt, die jubelten den Kindern und Studenten aber in der Lautstärke eines vollen Saales zu. Zum ersten Mal seit zwei Jahren durften die Ballettschüler wieder auf die Bühne, gemeinsam mit ehemaligen Absolventen feierten sie den Gründungstag ihrer Institution, die auf den Tag genau 50 Jahre zuvor eröffnet worden war: am 1. Dezember 1971. Ein alter Fernsehbeitrag von damals ließ John Cranko und die legendäre Pädagogin Anne Woolliams, die erste Leiterin der Schule, in Farbbildern zum Leben erwachen, mitsamt Einblicken ins damalige Internatsleben und Training.
Ein altes Druckereigebäude mitten im Wohngebiet, etwa einen Kilometer vom Staatstheater entfernt, hatten die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg damals für den Begründer ihres Ballettwunders aufwendig renoviert, entstanden war das erste Ballettinternat Westdeutschlands. Es leistete, genau wie John Cranko, Pionierarbeit für das Ballett in ganz Deutschland und wurde zum Vorbild. Das ist die Schule jetzt mit ihrem prachtvollen, 2020 eröffneten Neubau wieder, ihre zwischendurch wechselvolle Geschichte wird in einem Buch zum Jubiläum mit vielen Bildern dokumentiert. Heute gehört die Cranko-Schule zu den weltweiten Top Ten, jedenfalls was die Stipendien-Wünsche von Gewinnern der wichtigsten Wettbewerbe wie dem Youth America Grand Prix oder dem Prix de Lausanne ausmacht. Was vor allem an Tadeusz Matacz liegt, der die Schule seit 1999 leitet und inzwischen an die 70 Prozent der aktuellen Kompanie dort ausgebildet hat, darunter viele der Ersten Solisten und eine ganze Generation junger Choreografen.
Mit einem sorgfältig zusammengestellten Programm blickte die Gala auf die Geschichte der Schule zurück – auf die vielen Uraufführungen, die dort in Auftrag gegeben worden sind, auf Choreografen wie Uwe Scholz oder Demis Volpi, die dort gelernt haben, auf den Humor ihres Gründers. Zuerst war die klassische Grundlage dran, die durchweg mit bemerkenswerter Leichtigkeit dargeboten wurde – gerade die Mädchen tupften ihre Spitzenschuhe federleicht auf den Boden, ob im ersten Satz von Leonid Lawrowskys „Klassischer Symphonie“ oder im Pas de quatre aus Auguste Bournonvilles vergessenen „Abdallah“, dessen klischeeträchtiger Inhalt sowie der Untertitel „Die Gazelle von Basra“ bei den Diversity-Wächtern des Balletts Schnappatmung verursachen dürften. Hier gab’s lediglich einen unverdächtigen, nach bester Bournonville-Manier luftig ausgezierten Pas de quatre, in dem Lincoln Sharp als orientalisch gewandeter Titelheld sowie seine drei Verehrerinnen beeindruckten.
Christopher Kunzelmann, Natalie Thornley-Hall und Vincent Travnicek, auch sie Mitglieder des Stuttgarter Balletts, zeigten den traumwandlerisch-melancholischen Pas de trois „Lamento della Ninfa“ von Stephen Shropshire, lange ein Bestandteil der Schulaufführungen. Travnicek wie auch Clemens Fröhlich gehören zu den wenigen Schülern, die aus Baden-Württemberg stammen und sämtliche Klassen der Cranko-Schule durchlaufen haben – zwei Erfolgsgeschichten, die Crankos Annahme von damals bestätigen, dass die Deutschen durchaus Ballett tanzen können. Fröhlich, nach einem Abstecher zu Het Nationale nun zum Glück wieder in Stuttgart, tanzte den Pas de deux aus Kenneth MacMillans „Concerto“ mit der letztjährigen Absolventin Jolie Lombardo, einer ungewöhnlich groß gewachsenen und bei aller Energie samtig-sanften Ballerina.
John Crankos Humor und sein lächelnder Humanismus blitzten in zwei Ausschnitten auf, im entzückenden Trio aus „Pineapple Poll“ mit Martí Fernández Paixà als stolzem, aber genervten Captain Belaye, Aiara Iturrioz Rico als seiner verwöhnten Verlobten und Anouk von der Weijde als schnatternder Schwiegermutter – nochmal drei Absolventen, die heute im Stuttgarter Ballett tanzen. Riccardo Ferlito wirbelte als Joker durch die Herz-Suite aus „Jeu de cartes“, deren fünf stolze Herren, Studenten der letzten Akademieklasse, mit schönster Macho-Allure durch ihre diffizilen Solos marschierten.
Über den ganzen Abend verteilt waren klassische und moderne Solos, in denen die noch sehr junge Cypress Schaff, Clara Thiele und Katia Battaggia glänzten. Die grazile, ungemein ausdrucksstarke Alice McArthur zeigte das selbst choreografierte „Ember“, ein musikalisches, so virtuoses wie schönes Solo. Nach Jahren voll herausragender männlicher Absolventen sind also zur Abwechslung mal die Mädchen der Schule ganz stark. Bereits als Schülerin hat Ava Arbuckle durch diverse Wettbewerbe eine gewisse Prominenz gewonnen, noch so eine starke, selbstbewusste und in sämtlichen Stilen hochbegabte junge Frau – Ballettintendant Tamas Detrich bot ihr beim Schlussapplaus spontan eine Stelle in der Kompanie an, im Frühjahr hat er hoffentlich noch weitere zu vergeben.
Wie gut die Ausbildung an der Akademie ist, dafür steht als bestes Beispiel der jetzige Halbsolist Gabriel Figueredo, der zwei Jahre nach seinem Abschluss all das überreich zeigt, was ihm bei den idealen körperlichen Voraussetzungen eine Traumkarriere in diesem Beruf garantiert: Musikalität, Phrasierung, Dynamik und eine Leichtigkeit aller Bewegung, die bereits jetzt, im jungen Alter, auf jede Demonstration von Virtuosität verzichtet und den Ausdruck sucht, die Bedeutung. Er tanzte ein Solo aus „Die Schöpfung“ von Uwe Scholz, die Akademieklassen zeigten weitere Ausschnitte und wieder einmal kam man zum Schluss, dass die Ballettwelt zu wenig von Uwe Scholz sieht.
Der zweite Teil des Abends war der Moderne gewidmet, und da dringen mit der Jugend von heute auch die Themen von Fridays for Future in den Tanz vor, etwa in der kurzen Uraufführung von Sabrina Massignani, wenngleich nur als Text. In Alessandro Giaquintos „Drifting Bones“ herrscht trotz mancher Bewegungspointen eine dystopische Stimmung, mit reptilienartigen Punkten auf der Wirbelsäule krochen die Tänzer herein. Ein wenig fehlt dem Werk die Struktur, vieles wirkte lediglich aneinandergereiht, auch sollte sich der junge Choreograf eher ein Beispiel an Marco Goeckes dynamischer Phrasierung als an dessen (authentischerem) Einsatz von Grimassen nehmen. Aber wie wunderbar hat sich dieser frühere Schüler, ein schmaler und viel zu ernster Junge, zu einem Multitalent entwickelt, auf das die Stuttgarter Kompanie stolz sein kann. Das zeigte er gleich darauf als Tänzer in „A Spell on You“, Marco Goeckes Uraufführung von 2016 für die Schule, in der Neufassung geboostert durch den rasanten, virtuosen Schluss von „All long dem day“, seinem Stück für die Staatliche Ballettschule Berlin. Scheinbar fallen dem Starchoreografen gerade für Schüler seine originellsten Moves ein, neben Giaquinto faszinierten Timoor Afshar und Riccardo Ferlito, beide damals bereits in der Uraufführung.
Aus Demis Volpis „Karneval der Tiere“, einem wesentlichen Startschuss seiner Karriere, die ihn zum heutigen Ballettdirektor in Düsseldorf geführt hat, kam noch einmal das regenbogenschillernde „Aquarium“ für eine Reihe armzüngelnder Mädchen, ein wirklich magischer Moment. Lorenzo Angelini zeigte ein tolles Solo von damals, auch er ist ein stolzer, selbstbewusster Tänzer geworden, der heute bei Stephan Thoss in Mannheim brilliert. Die abschließenden Ausschnitte aus den „Etüden“, dem Signaturstück der Schule von Tadeusz Matacz und seiner Frau Barbara, waren viel zu kurz, wie immer funkelten die Jeté-Reihen der Mädchen und wie immer flogen die Jungs in hohen Sprüngen über die Bühne.
Mit Tamas Detrich stammt nun auch der jetzige Ballettintendant aus der Cranko-Schule, genau wie viele Ballettdirektoren, internationale Tanzstars, Choreografen – und ein großer Teil des Galapublikums, denn es waren viele Ehemalige angereist. John Crankos Traum ist wahr geworden, sein Erbe lebt und gedeiht in einer Weise, die seine kurze Zeit in Stuttgart inzwischen weit überstrahlt. Bei all den Skandalen um die Ballettausbildung, die den Tanz in jüngster Zeit erschütterten, steht die Cranko-Schule als ein Fels in der Brandung – die vielen hoffnungsfrohen jungen Künstler, die strahlenden Gesichter und auch die dankbaren Ehemaligen erinnerten an diesem Abend daran, dass Balletttanzen für die, die es in einer zwar fordernden, aber pädagogisch sensiblen Umgebung lernen, eben keine Qual, sondern das höchste Glück auf Erden ist.
Angela Reinhardt