Hoch oben, einige Stockwerke über der großen Bühne des Chemnitzer Opernhauses, befindet sich der Ballettsaal. „Showcase“ heißt hier die jährliche Reihe, bei der Publikum, Tänzerinnen und Tänzer sehr nahe beieinander sind. Bei der neusten Produktion bleibt ein gewisser Abstand. Ein großes Quadrat ist auf dem Tanzboden markiert. An drei Seiten sitzen die Zusehenden. Über der vorderen Markierung in der Mitte, an schwerem Haken, hängt ein leerer Vogelkäfig.
An der hinteren Markierung befindet sich eine so massive, rustikal wirkende Bank. Mehr braucht der aus Israel stammende, in Berlin lebende, Choreograf und Tänzer nicht, um drei Tänzerinnen und einen Tänzer, die aus Italien, Spanien und Deutschland kommen, hier in Chemnitzer auf die tänzerische Suche nach jener Heimat zu senden, die sie letztlich, gleich an welchem Ort der Welt sie sich bewegen, tief in sich tragen. Aber um zu dieser Erkenntnis zu gelangen bedarf es mitunter harter Erfahrungen. Und so beginnt diese performative Choreografie auch mit einer harten Szene, der dann weitere Varianten des Suchens und Findens auf den Wegen, Umwegen, auch Irrwegen dorthin folgen, wo sie glauben immer zumindest einen Hauch von dem gefunden zu haben, wo sie nun heimisch sein möchten.
Zunächst bewegt sich die Tänzerin Darcie Ridder in spürbarer Erschöpfung unter Aufbietung letzter Kräfte in kriechender Haltung in eine Richtung, als wollte sie die Abgrenzung der allen zugewiesenen Grenzen dieses Heimatkunde-Experiments mit letzter Kraft durchbrechen. Aber sie ist gefesselt. Ihr Körper ist in einer Schlinge und der Tänzer Tim Hutsch hält sie am Strick, zieht sie letztlich auch zurück, dorthin, wo er mit Angelica Bistarelli und Lucia Alfaro eben an jener massiven Bank steht.
Immerhin, die gefesselte Flüchtende hatte sich bereits eines Teiles ihrer uniformierenden Bekleidung entledigen können. Später werden die anderen dies auch tun, diese Hemden mit den Krawatten und den Jacken dazu wirken wie aufgezwungene, uniformiernde Schulkleidung. Am Ende werden sie diese in den Käfig stopfen und vielleicht in der Lage sein den hier entflohenen Wesen zu folgen. Im Sound der Musik von Stefan Menzel sind jedenfalls mitunter zwitschernde Freiheitsklänge zu vernehmen, ebenso wie das Klopfen eines Spechtes. Und was wäre denn auch naheliegender an jene fliegende Freiheit eines Vogels zu denken, wenn es um die Freiheit der Heimatwahl von Tänzerinnen und Tänzern geht. Denn immer wieder werden sie sich in aufrechte Haltungen begeben müssen, sich der Schwerkraft widersetzen, auch zu donnernden Beats die Grenzen der Bewegung ausreizen um dann doch immer wieder in die heimatlose Einsamkeit am Boden zu fallen. Aber sie kommunizieren, sie senden Signale der Bewegungen, erreichen die abhebende Kraft synchroner Variationen um gleich darauf die individuellen Möglichkeiten dieser tanzenden Heimatsuche zu erkunden. Das kann dann für Tim Hutsch in eine mitreißende Abfolge geradezu sportiver Sprungvarianten führen und ihn dennoch am Ende in dieses Quartett der Heimatlosen auf die Tanzfläche ihrer neuen Heimat führen.
Ganz praktisch sind sie nämlich angekommen, wo für sie der Tanz zwar nicht beginnt, aber wo sie als Junioren der Chemnitzer Kompanie mit Hilfe des Förderprogramms NEUSTART KULTUR erstmals in diesem Ensemble der inzwischen hier ebenso angekommenen Kolleginnen und Kollegen die Chancen haben, den Tanz zu wagen. Was natürlich auch bedeutet, so etwas wie Momente der Ausflüchte, des Abhebens und des Ankommens, nicht zu unterdrücken, auch mögliches Heimweh wird dazu gehören. Aber der Tanz, diese Community der „Fremden“ lässt das zu.
Yaron Shamir ist gelungen, kraft der individuellen Kunst des Tanzes jener vier „fremden“ Tänzerinnen und Tänzer, eben dieses Fremdsein immer wider zu durchbrechen. Und auch beim Publikum am Abend der Uraufführung kamen sie an, so jedenfalls sind anhaltender Applaus und freundlicher Jubel zu deuten.
Boris Gruhl