Sollte man erraten, wer auf eine solche Idee überhaupt kommen konnte, weitere Künstlerinnen und Künstler gewinnen könnte, dazu auch Unterstützerinnen und Unterstützer, um dann in einer so außergewöhnlichen, wie ungewöhnlichen Tanzkunstaktion mit dem Titel „The Dying Swans Project“ – ausgehend von Michel Fokines legendärem Solo „Der sterbende Schwan“ von 1905 für die Pawlowa, zur Musik aus „Der Karneval der Tiere“ von Camille Saint-Saëns – keinen einzigen Schwan sterben zu lassen:
Das kann ja nur der Stuttgarter Tänzer, Choreograf und Entertainer Eric Gauthier sein.
Als er nämlich wieder einmal, wie so oft schon in diesen Zeiten der Pandemie, den 16 Tänzerinnen und Tänzern seiner Company am Stuttgarter Theaterhaus mitteilen musste, dass Projekte verschoben werden müssen, Premieren nicht stattfinden und das für dieses Jahr geplante Colours-Festival auch nicht seine Farben entfalten kann, da war ihm auch klar, er müsse etwas tun, gegen die „zunehmende Mutlosigkeit in den Augen seiner Tänzerinnen und Tänzer“.
Und was derzeit eben auf keiner Bühne möglich ist, das lässt sich im Film verwirklichen, zumal ja diese Kunst dazu auch das bestens geeignete Medium sei, größte Abstände und trennende Distanzen zu überwinden, letztlich sogar so etwas wie Nähe in der Distanz zu ermöglichen.
Zumal sich ja gerade durch den Blick der Kamera beengende Mauern überwinden lassen und auch Menschen mit den Hoffnungszeichen des Tanzes erreicht werden können, die sonst vielleicht gar nicht damit in Berührung kämen.
Die Idee war geboren: 16 Soli, je drei bis vier Minuten, 16 Choreografinnen und Choreografen, unterschiedlicher Art, manche hatten schon mit der Company gearbeitet, andere nun erstmals, hoffentlich auch wieder, 16 Musikerinnen und Musiker völlig unterschiedlicher Genres, dazu beste technische Voraussetzungen um dem gewählten Genre gerecht zu werden. Also 16 Tänzerinnen und Tänzer, nicht mit Höhenflügen, aber mit total individuellen Momenten des Abhebens, des Aufstehens in den unterschiedlichsten Arten ihrer Bewegungen gegen die tödliche Melancholie des Stillstandes.
Und wie wird man einer solchen Hommage an die Kraft des Tanzes auch nur annähernd gerecht?
Ein Versuch sei gewagt: „The Dying Swans Project“ – Eine Hommage in 16 Sätzen:
In „La Cigna“ von Mauro Bigonzetti entsteigt Garazi Perez Oloriz so schaumgeboren wie schaumverloren, in Ermangelung ozeanischer Weite und dennoch in assoziativen, mythologischen, knappen Bildsequenzen, zu Klängen von Bruno Moretti, einem schlichten Alltagsbehältnis und wir erleben Momente der Verwandlung trister Alltäglichkeit.
Zunächst mit dem von außen gelenkten Blick einer Drohnenkamera lässt Eric Gauthier in „ Covid Cage“ hinter verschlossener Tür seiner Wohnung Andrew Cummings bei körperlicher Aggression mit Visionen verunsichernder Spiegelungen seiner selbst sich in aufbrausende Tanzmomente steigern, nicht ohne Humor und heitere Brechungen, augenzwinkernd zum Finale, wenn Mama vor der Tür steht, sichtbar geimpft und ihren Tanzjungen in die Arme schließt.
Ihre Bilder sind stark, sie sind beunruhigend, bar jeder Hoffnung sind sie nicht, wenn Anita Hanke in „Taleb’s Theory“ zu tänzerischer Musik von Marc Strobel den Tänzer Shawn Wu in schwarz-weißen Lichtstimmungen mit Lichtröhren, die einen unendlich scheinenden Raum kunstvoll begrenzen, kraft seines individuellen, sich behauptenden Tanzes, zumindest in die visuelle, imaginäre Freiheit wieder gefundener Farben führt.
Hier erblüht ein Tutu, Abbild jenes Tanzkostüms, in dem einst das Leben des legendären sterbenden Schwans erlosch; in „Emovere“ lässt Itzik Galili wie aus einem Blütenkelch die Tänzerin Izabela Szylinska, zunächst von den Beinen her wie Abbilder des Innenlebens einer Blüte, von denen das Weiterleben ausgeht, sich immer stärker erheben, bis letztlich ihr Tanz fest an Boden gewinnen kann.
Mitten in der Natur, aus begrenzendem, kreisrundem Beton kann sich Shori Yamamoto in „Fallen Wings“ von Dominique Dumais auf traumhafte Tanzflucht in die Freiheit einer lichtvollen Landschaft begeben, die – man sieht es gut – alles andere ist, als weit entfernt von der nahen Alltäglichkeit.
Nebel, geheimnisvolle Klänge, tänzerischer Widerstand, in der Kraft ihres Körpers muss sich in „AELLΩ“ von Andonis Foniadakis die Tänzerin Anneleen Dedrog immer wieder aufmachen, sich dahin begeben, wo sich der Nebel lichten wird, und dies ganz sicher immer wieder, ein Leben lang, immer wieder Anfang und Ende, in der Anspielung auf den Titel mit sprichwörtlich gewordenem Alpha und Omega, Anfang und Ende des griechischen Alphabets.
In „SILENT SWAN“ mit Bruna Andrade von Kinsun Chan in beherrschender, weißer Leere eines nicht gänzlich bestimmbaren Raumes, beim Tanz zwischen allen Stühlen, mit erkennbaren Zutaten des tänzerischen Originals, dennoch am Ende am Boden, aber mit offenen Augen, neue Entdeckungen möglich.
Jede Treppe, die herab führt führt auch hinauf und umgekehrt für Guillaume Hulot in „Swanny Side of Life“, wenn er expressiv als wäre er auf verzweifelter Suche nach sich selbst, den Tänzer Jonathan dos Santos in eine Art Zwangschoreografie auf und ab stürmen lässt, die er offensichtlich durchtanzen muss, ehe er in einer visionären Lichtstimmung bei zu erahnender Faunsverwandtschaft sich vom Abbild einer Kunstform zu sich selbst bewegen wird, weder Schwan, noch Faun….
Trotz bewusst wahrnehmbarer Zitate des Originals vom sterbenden Schwan, auch kraft des Spitzentanzes, zu tänzerischen Klängen von Patrick Breiner, lässt Bridget Breiner in ihrer Kreation mit dem assoziativen Titel „Flatternd“ Nora Brown eben nicht in die Tiefen des Todes sondern in die Höhen des Lebens tanzen, auch flatternd, und dies eben nicht als Ausdruck von Angst.
In Schuberts Liedern des einsamen Wanderers auf seiner Winterreise sind die Tränen gefroren, in Edward Clugs Choreografie „drops“ sieht man Alessio Marchini in einem Becken voller Tränen, längst lassen sie sich nicht mehr ausschöpfen und er steht sprichwörtlich im Eimer, erreicht aber tänzerisch dennoch, trotz beunruhigender Momente körperlicher Befreiung, den hoffnungsvollen Schimmer einer ambivalenten Schlusssequenz.
Auch der Tänzer Theophilus Veselý begibt sich in „Kamma“ von Smadar Goshen im Faunische Gefilde unter weitem, weißem Tuch, mischt in seinem Tanz Zitate des Schwans hinzu um dann in einen schmerzhaften Bewegungskreis am Boden zu kommen, gegen den er aber kraftvoll antanzt, wobei am Ende, in blitzartig knapper Szene, das Erlebte und Durchtanzte zur annehmbaren Erinnerung wird.
Eine Landschaft, die Tänzerin Louiza Avraam mit den überlang gezogenen Ärmeln ihrer Strickjacke als Symbol hilfloser Einsamkeit mit dem Wechsel in eher städtische Gefilde eines menschenleeren Hafens in „OBLONG BLUR“ von Nicki Liszta und backsteinhaus produktion, getragen von der Frage, ob dieser Tanz wohl irgendwo hin führe, oder eher doch ins Nirgendwo, denn kein Zug rollt auf den Gleisen des Hafens, zum Glück, denn so bleibt das Lauschen der Tänzerin auf der Schiene ohne Gefahr für ihr Leben.
Und nochmals Assoziationen zu Schwan und Faun in „Oloris Oram“ von Elisabeth Schilling mit tänzerischer Dynamik von Mark Sampson in der Weite eines nicht definierbaren Lichtraumes, tanzend, nicht verloren, bei schemenhafter, dennoch wahrnehmbarer Lichtkomposition eines Ausweges im Spannungsfeld als Tänzer zwischen Höhenbezug und Anziehung der Tiefe, als angemessener Tanzgeste des persönlichen Zwischenraumes.
Irgendwo oder Nirgendwo, auf menschenleerem Weg, vielleicht in Stuttgart, oder sonstwo, Barbara Melo Freire tanzt in weißem Anzug in „Off White“ von Virginie Brunelle durch das symbolische Nachtlicht in schwarz-weißer Ästhetik mit erkennbaren tänzerischen Schwanen-Assoziationen zu ebensolchen Klangvarianten, in sich steigernder Tanzkraft voran, auch im Moment unverzichtbarer Erschöpfung, Augen auf, der Tanz geht weiter.
Wo sind die anderen?, „We Were Many“ heißt die Choreografie von Kevin O’Day für Luca Pannacci, der allein zwischen vielen Hüten tanzt, die sicher alle mal flott auf den Köpfen derer saßen, die jetzt nicht mehr da sind, was aber den Tänzer trotzdem in wunderbare Tanzvarianten melancholischer Heiterkeit à la Chaplin führt, bei denen er keinen der Hüte liegen lässt, er setzt sie alle selber auf und ist so wahrhaft gut behütet.
Und zum Finale wird es auch wieder schön, wenn Sidney Elizabeth Turtschi in der Choreografie „all tomorrow’s parties“ von Constanza Macras in einem schönen Park erwacht, auf- und davon, nach dem Motto, na bitte, geht doch, Spaß macht es auch, komisch wird es auch, Trockenschwimmen, Hyperhektik, und dann – muss jetzt sein – mal wieder eine Zigarette rauchen, muss ja auch nicht immer auf der Stelle tödlich sein.
Fazit: Ja, typisch, Eric Gauthier, hier wird eben nicht frustriert dicht gemacht, im Gegenteil, hier wird viel aufgemacht, nicht zuletzt für uns, die zu Hause dabei sind, wenn diese Schwäne wie auch immer, letztlich doch in vielen Lebensflugvarianten abheben. Und da geht eben doch der Vorhang hoch, das Licht geht an, der Tanz beginnt, ja klar, noch nicht auf der Bühne, aber im Kopf, und da stehen dieser Kunst nun weite Räume offen, ganz weit, und das ist gut so.
Boris Gruhl