Die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf wagt sich an eine Neuinterpretation des Klassikers „Giselle“ und erntet mit ihrer modernen Version Jubel. Im Mittelpunkt von Demis Volpis Ballett stehen die Liebe zweier Frauen sowie verpasste Lebenschancen.
Wer „Giselle“ als klassisches Ballett mit einem Bauernmädchen, rachsüchtigen Förster, verliebten Adeligen und nächtlichen Waldgeisterfrauen sehen möchte, der ist in Demis Volpis Neuinszenierung falsch, denn bis auf die Musik von Adolphe Adam ist hier so einiges anders. In der Originalfassung ist die Hauptfigur eine junge, unschuldige Bauerntochter namens Giselle, die sich in den jungen Adeligen Albrecht verliebt, der vorgibt, ein einfacher Dorfbewohner zu sein, bis sich seine wahre Identität herausstellt und Giselle bestürzt erfährt, dass Albrecht schon verlobt ist.
Der Leiter des Balletts am Rhein setzt seine Akzente, indem er den Stoff neu erzählt und aktuellen Diskussionen zum Thema Diversität Platz schafft. Als Meister der Erzählung schafft er mit seiner hochmotivierten und vielseitigen Compagnie feinfühlig den Spagat zwischen klassischem Ballett und neu erzähltem Handlungsballett. Die Düsseldorfer Symphoniker lassen mit Mark Rohde die Komposition der wunderschönen Musik von Adolphe Adam zu einem Hörgenuss werden.
Fotos: © Bettina Stöß
Demis Volpi nimmt im ersten Akt das Publikum mit in die Welt des Theaters, in dem gerade ein Ballett geprobt wird. Bathilde und Albrecht sind hier ein Paar, das sich nach der Aufführung das Geschehen auf und hinter der Bühne anschauen darf. Bathilde, ausdrucksstark und kraftvoll getanzt von Doris Becker, macht sich alleine auf den Weg durch die Kulissen und steht plötzlich vor der Tänzerin Giselle, die von Futaba Ishizaki mitreißend getanzt wird. Bathilde ist fasziniert von Giselle, die der jungen Ehefrau ihre Tanzwelt mit Schritten auf Spitzenschuhen zeigt und sie umgarnt. Beide Frauen fühlen sich voneinander so stark angezogen, dass es schließlich zu einem Kuss kommt. Für wenige Momente erlebt Bathilde ausgelassen und beglückt im Trubel einer Party mit bunt bekleideten Gästen Gefühle, die sie so zuvor noch nicht kannte. Doch jede Party hat auch ein Ende und so platzt mit der Entdeckung der Liebe zwischen Giselle und Bathilde der Traum vom neuen Glück wie eine Seifenblase. Adolphe, würdevoll und stark getanzt von Daniele Bonelli, zieht Bathilde, wie an einer unsichtbaren Fessel, in ihr altes Leben zurück. Die Bühnenarbeiter räumen Kulissen und den Tanzboden weg. Futaba Ishizaki als Giselle zeigt einen ausdrucksstarken Tanz der inneren Verzweiflung.
Die Grundthemen des romantischen Balletts mit düsterer Mondstimmung, Waldgeistern und enttäuschter Liebe hat Demis Volpi beibehalten, doch wer eine klassische Giselle sehen möchte, der ist bei dieser Neuinszenierung falsch. Der Düsseldorfer Choreograph hat sein Stück um einige Facetten ergänzt und verändert. Angefangen bei einer Bühnenkulisse statt eines Dorfes, über neue Paarkonstellationen, bei denen sich Albrecht nicht in Giselle, sondern seine Frau Bathilde in die charmante Tänzerin verguckt, bis hin zu der Besetzung der Wilis, die ursprünglich von Frauen getanzt wurden und in dieser Fassung von beiden Geschlechtern. So tanzen sowohl Männer als auch Frauen in Tutus, halblangen Hosen und blonden Perücken die Waldgeisterfrauen.
Im zweiten Akt begegnet die gealterte Bathilde, verkörpert von Angelika Richter, sich selbst und lässt Stationen ihres Lebens Revue passieren. Dabei wirbeln die Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie als sie begleitende Geister wie ein nie enden wollender Fluss über die Bühne. Bathilde muss noch immer an ihre Begegnung mit Giselle denken. Ihre Gefühlswelt findet Ausdruck in einem verzweifelten Pas de deux mit Giselle und einem fast kämpferischen Tanz zu dritt mit ihrem Mann und ihrer Geliebten. Bathilde ringt und hadert mit sich und dem Gedanken, wie ihr Leben geworden wäre, wenn sie einen neuen Pfad mit Giselle eingeschlagen hätte.
Demis Volpi hat sich den Stoff der Romantik für das Saisonende als Uraufführung ausgesucht, um genau diese Idee zu zeigen: Was wäre, wenn es einen schicksalhafte Begegnung gibt, an dem das Leben eine Wende hätte nehmen können? Volpi ist ein Geschichtenerzähler und zeigt mit der Erzählung seiner „Giselle“ die tiefe innere Zerrissenheit, die Menschen empfinden können, wenn sie in sich plötzliche neue Gefühle für eine Person entdecken, obwohl es der Zeitpunkt, der Status, die innere Stimme, aber auch eine Gesellschaft nicht zulassen. Der Choreograph wählte für sein Stück die Liebe zwischen zwei Frauen, doch es hätte auch jede andere Begegnung zwischen zwei Menschen sein können, um das Drama einer nichtgelebten Liebe, verpassten Chancen, Betrug, Verzweiflung und Enttäuschung aufzuzeigen.
Für seine neue Kreation benutzt er eine Sprache der kleinen Gesten, wie die sich ineinander drehenden Hände der Protagonistinnen sowie die sehnsuchtsvollen Blicke, die die Tiefe dieser kurzen „Amour fou“ widerspiegeln. Beide Frauen können und wollen sich nur schwer voneinander trennen und hakeln ihre Füße ineinander, während die Gesellschaft versucht sie auseinanderzureißen. Am Ende siegt das starke, gesellschaftliche Band, das sie mit ihrem Mann Adolphe verbindet, an dem dieser Bathilde wieder in sein Leben zurückzieht.
Demis Volpis Choreographie ist eine Mischung aus klassischen und zeitgenössischen Elementen, die in dieser modernen Erzählung gut zusammen harmonieren. Der Choreograph wird auch in dieser Inszenierung seiner Rolle als fantastischer Geschichtenerzähler mit Liebe zum Detail gerecht. Fast in jeder Ecke tummeln sich kleine Geschichten, die von den 23 Tänzerinnen und Tänzern, Bühnenarbeitern, Waldgeistern, einem Kind und Partygästen ausdrucksvoll erzählt werden. Das Augenmerk liegt allerdings auf den beiden ausgezeichneten Protagonistinnen Bathilde und Giselle, die das Stück tänzerisch durchgehend auf hohem Niveau tragen.
Demis Volpi schafft es, bestimmte romantische Themen des Stückes erzählerisch und dramaturgisch aufrechtzuerhalten und verwebt zugleich Altes mit Neuem. So schafft er mit seinen Tänzerinnen und Tänzern eine stets lebendige und vibrierende Atmosphäre auf der Bühne, die durch die Dunkelheit, den Rauch und den Mond als Bühnenbild von Heike Scheele und der Lichtkunst von Bonnie Beecher inszeniert, den romantischen Charakter eines „Ballet blanc“ beizubehalten.
Giselle gehört bis heute zu den am häufigsten aufgeführten Stücken, das von allen größeren Ballettkompagnien weltweit getanzt wird. Für Fans von klassischen Balletten ist diese Neuinszenierung des romantischen Balletts möglicherweise etwas gewöhnungsbedürftig. Wer jedoch offen für neue Sichtweisen und Choreographien ist, für den kann sich dieses Stück mit einer modernen Giselle in jeder Hinsicht künstlerisch als Inspiration lohnen.
Viola Gräfenstein