Choreografien von Eno Peçi und Robert Bondara
Allein die Auswahl solcher Klassiker revolutionärer Erneuerung des Balletts durch Diaghilews Ballets Russes, wie Michail Fokines 1912 im Pariser Théâtre du Châtelet uraufgeführtem Ballett „Daphnis et Chloé“ mit der Musik von Maurice Ravel und Vaslaw Nijinskys, ein Jahr später, ebenfalls hier aufgeführtem „Le Sacre du Printemps“ mit der Musik von Igor Strawinsky, dürften Ballett- und Tanzfans entweder in eine gewissen Rausch, zumindest in gespannte Neugier versetzen. Und dies natürlich wenn mit Eno Peçi und Robert Bondara zwei Choreografen angekündigt werden, die man längst nicht nur Chemnitz gut kennt und schätzt.
Um erneut einen Rausch – einen „Frühlingsrausch“ – mitten Im Herbst, zu entfachen ist es Ballettdirektorin Sabrina Sadowska erneut gelungen beide Künstler zu verpflichten, dazu auch – und das erweist sich auch erneut als enormer Glücksfall – den hier ebenfalls besten bekannten und geschätzten Ausstatter Hans Winkler. Wer sich in Chemnitz an Eno Peçis Interpretation des Klassikers „Schwanensee“ erinnert konnte erwarten, dass er in seiner Kreation eine so eigene wie anregende Sicht auf Ravels „Daphnis et Chloé“ nach der spätantiken Romanvorlage des Longos über jene beiden Findelkinder bei den Hirten auf Lesbos, die einander lieben, sich verlieren, sich finden, und sogar die Eltern dazu, um dann ihren Weg als glücklich verheiratetes Paar gehen können, zur Uraufführung bringen würde. Das hat er getan. Und er hat sich, das erweist sich nicht sofort auf den ersten Blick, doch zumindest an assoziativ deutbare Motive der Vorlage gehalten. Dies auch immer wieder im Einklang mit Ravels Komposition für Chor und Orchester, die sich weit entfernt von musikalischer Illustration der literarischen Vorlage abhebt und eigene Akzente setzt mit tonalen Assoziationen durch Klanggemälde von Motiven des Suchens und Verlierens, des Findens und Haltens, Momenten des Glücks und der Verzweiflung.
Und so lässt uns Peçi zunächst in starken Klang-, Raum-, und Bewegungsbildern erleben, was es heißt, wenn die Versatzstücke des Lebens durcheinander geraten, ihre Verbindungen verlieren, wenn sie sich zwar für Momente zu einem schutzgewährenden Raum fügen lassen, um gleich darauf wieder aus den Fugen zu geraten.
Weil sich Hans Winklers riesige Raumteile mit nur bedingt lichtdurchlässigen Flächen aber dennoch von den Tänzerinnen und Tänzern bewegen lassen, bedarf es der Anleitung, der Hilfe, der Begleitung. Und so führt uns diese Bild- und Klangfolge mit ihren assoziativen Abbildern zerstörter Seelen – jetzt in sehr deutlicher, choreografischer und optischer Deutung – in jene Räume seelischer Reparaturen, durch Benjamin Kirkman als Oberarzt mit den Pflegern Alejandro Guindo Martin und Dan Ozeri, klar definierter Einrichtung psychotherapeutischer Geschlossenheit. Wenn dann mit Großrequisiten wie Krankenbett und Rollstuhl weitere Zeichen unübersehbar sind, dann wird auch schon mal die Grenze zum Klischee berührt, auch durch die krankhafte Störungen illustrierenden Bewegungsvorgaben der Tänzerinnen und Tänzer als Patienten und Nymphen.
Diese nicht immer überzeugenden Versuche einer Realisierung erfahren zum Glück immer wieder nicht so direkte, realistische Aufbrüche, wenn sich Bilder und Bewegungen von assoziativer Kraft durchsetzen, nicht zuletzt unter der Bildkraft einer in satten Grüntönen gehaltenen Landschaft, die an das Bühnenbild der Uraufführung von Leon Bakst erinnert. Somit führt letztlich Eno Peçis so bildkräftige wie von tänzerischer Intensität geprägte zeitgemäße Deutung immer wieder zu menschlichen Grundfragen des nicht zu deutenden Empfindens jener Schmerzen jenseits physischer Verwundbarkeit.
Und dies gelingt, vor allem durch die von kraftvoller Empfindsamkeit geprägte tänzerische Interpretation von Raul Arcangelo und Natalia Krekou als Daphnis und Chloé in der besuchten Aufführung, am 24. Oktober 2021. Und im Zusammenklang mit der unwahrscheinlich starken Kompanie des Balletts der Theater Chemnitz gelingt letztlich im Zusammenklang von Musik, Raum und Tanz eine Hommage an die niemals gänzlich zu deutende aber immer wieder zu erfahrende Kraft des Eros. Und wo gelänge das besser als in der Kunst des Tanzes, jener „Muttersprache des Menschen“, wie sie Dorion Weickmann in ihrem gleichnamigen Buch beschreibt.
Und somit fügt sich dieser immer wieder neu zu deutende Ansatz geradezu genial in der neuesten Chemnitzer Ballettproduktion, wenn im zweiten Teil der hier zuletzt durch seine choreografische Deutung von Franz Schuberts Zyklus „Die Winterreise“ bestens angenommene Choreograf Robert Bondara gewonnen werden konnte für die Inszenierung und Choreografie des Klassikers der Moderne schlechthin, „Le Sacre du Printemps“ zur Musik von Igor Strawinsky.
Wieder ist es zunächst die räumliche Assoziation von Hans Winkler mit bedrohlich grauen Betonwänden, bewegt von nun unsichtbaren Händen, die auch in Korrespondenzen des Tanzes sowohl Assoziationen zulassen, als bewegten sich hier massive Mauern des Gedenkens, dann wieder die der Klage, ungewisser Bedrohung, aber auch jedweder Öffnung gegen Ängste vor Einschluss oder stärker noch, was die Individualität der Tänzerinnen und Tänzer angeht, der Befreiung.
Auch Robert Bondara folgt nicht der ursprünglichen Handlung dieses rauschhaften Frühlingsopferrituals der „Bilder aus dem heidnischen Russland“ sondern setzt eher auf Befreiung als auf Opferung. Und dies in starker Zuwendung zu den Welten der sich öffnenden Wahrnehmungshorizonte durch die musikalische Kraft. Sei es im zarten Beginn oder in den stampfenden Rhythmen der Ekstase bei sensiblen Ausklang mit den abschließenden Klangvarianten, die den Beginn beschwören. Ja, ein Kreislauf, ein Kreislauf der Natur, der Biografien, der Wahrnehmungen, der inneren, der äußeren, der Emanzipationsrituale junger Menschen, die man von nebenan zu kennen glaubt, in der schützenden Uniformität ihrer dunklen Kaputzenshirts. Nicht zuletzt bei der vor mehr als 100 Jahren uraufgeführten Musik von Strawinsky kann man durch auch widerständig, stampfende Fluchtklänge heutiger Rap- oder Hip-Hop-Dynamik wahrnehmen.
Und so besticht Bondaras Choreografie durch die Kraft der Gruppe von 20 Tänzerinnen und Tänzern der Chemnitzer Kompanie, deren Namen es verdient hätten, hier genannt zu werden. Dan Ozeri und Valeria Gambino als „Er“ und „Sie“ mögen hier stellvertretend stehen, natürlich auch angesichts ihres stark berührenden Duetts. Am Ende, wenn die ganze Gruppe die Kapuzen weit über die Köpfe zieht, wenn Dan Ozeri allein bleibt, wenn sich wie in einer bedrohlichen Röhre aus Metal doch ein Lichtstrahl auf den Tänzer nieder senkt und das Licht des Theaters verlischt, die Musik verklingt, wird es still. Wenn sich ein Augenblick schönster Ruhe bei der Wahrnehmung innerer Befreiung im Theater ausbreitet, dann hat es auch uns, das Publikum erreicht, diese Trias der Künste ohne Worte, des Klanges, des Raumes mit dem Licht und vor allem kraft des Tanzes. Und dieser Tanz hier, auch in den großen Szenen der ganzen Gruppe, entbehrt niemals der Individualität der Tänzerinnen und Tänzer. Immer wieder möchte man einzelnen Tänzerinnen oder Tänzern folgen, immer wieder wird aber auch der Blick zur nächsten, zum nächsten geführt, welch wunderbare Verführung durch die Kunst des Tanzes. So gehen sie nicht verloren, diese Rituale der Selbstbehauptung, der Zuneigung, der Einsamkeit, alles – und das sollte nicht zu übersehen sein – letztlich doch im Schutz der Gruppe.
Und so verlässt man mitten im Oktober das Theater, beglückt und zugleich verwirrt, verunsichert auch, aber vor allem innerlich bestärkt, denn die Kraft des Tanzes setzt sich fort, bezieht sich doch letztlich auf all das, was uns bewegt, wofür es aber aber kaum Worte geben kann.
Boris Gruhl