Zur Wiederveröffentlichung: Ein Interview-Porträt zu Ehren von Roland Petit
Im Gedenken an einen der bedeutendsten Choreographen des 20. Jahrhunderts veröffentlicht Dance for You Magazine dieses Interview-Porträt von Mihaela VIERU aus dem Jahr 2008 erneut. Entstanden nach einem zweitägigen Gespräch in Genf, gewährt der Text intime Einblicke in Leben, Denken und Werk von Roland Petit. Die Redaktion versteht diese Wiederveröffentlichung als Hommage an einen Künstler, der die Tanzwelt mit unverwechselbarem Stil und kreativer Kühnheit geprägt hat – und als Geschenk an unsere Leserinnen und Leser.
Er ist eine Legende, ein monstre sacré, dem man mit Demut und Bewunderung begegnet. Einer, der wie aus jenem Stoff gewoben scheint, aus dem Träume bestehen. „Der Tanz war mein heiliger Weg“, sagt er.
Warum faszinieren uns seine Ballette bis heute? Wenn man an die großen Schöpfer des 20. Jahrhunderts denkt – Michail Fokine, Leonid Massine, George Balanchine, Kenneth MacMillan, Antony Tudor, Frederick Ashton, John Cranko, Maurice Béjart oder Jerome Robbins – nehmen Roland Petits Werke eine ganz eigene, unübersehbare Stellung ein. Klassisches Ballett verbindet er auf unverwechselbare Weise mit modernem Ausdruckstanz. Elegant und witzig zugleich, rasant und voller Theaterzauber, überrascht er immer wieder: durch akrobatische Elemente, durch Requisiten aus dem Alltag, durch einen Sinn für das Spektakuläre. Er ist ein Kind der „nouvelle vague“ des Tanzes der 1950er Jahre – und ein Künstler, der sich konsequent von der reinen Klassik abwandte, um einen eigenen Stil zu erschaffen.
Die Schriftstellerin Edmonde Charles-Roux sagte einmal über ihn: „Die Stärke von Roland Petit? Er bleibt unberührt von der Mode – und interessiert sich doch für das Aktuelle. Er macht keine Zugeständnisse. Er ist das enfant terrible des Jean Cocteau.“
Ich treffe den Maestro am Nachmittag. Die Tänzer warten bereits auf ihn zur Probe, doch er wirkt gelöst, konzentriert, spricht mit mir ohne Hast. Ich bin vorbereitet – mit vielen Fragen. Ob es seine eigene Entscheidung gewesen sei, Tänzer zu werden, oder ob seine Familie dahinterstand? „Seit ich ein kleines Kind war, wusste ich, dass ich Tänzer werden wollte, dass ich mich durch Gesten und Musik ausdrücken musste.“ Mehr als ein halbes Jahrhundert – genau genommen achtundsechzig Jahre – sei das nun her. Damals, mit sechzehn, trat er ins Corps de ballet der Pariser Oper ein. Seither liebt er den Tanz wie sein eigenes Leben. Er gab ihm alles: seine Kraft, seine Liebe, seine ganze Existenz. Und der Tanz gab ihm alles zurück. Die Zeit sei wie im Flug vergangen, sagt der heute 84-Jährige. Nichts habe sich für ihn geändert – auch heute könne er sich kein anderes Leben vorstellen als das des Choreografen.
Seine erste Choreografie, Les Forains, entstand in Paris für die „Soirées de la Danse“ am Théâtre Sarah Bernhardt. Petit hatte bei Boris Kniaseff gelernt – jenem legendären Lehrer, dem die Tanzwelt die barre au sol verdankt. Petit erzählt mit der Begeisterung eines Entdeckers: „Kniaseff war ein fantastischer Lehrer, aber er hatte in seinem Saal keine Stangen. Also sagte er zu seinen Schülern, sie sollten sich eben auf den Boden setzen und die Übungen dort machen. So wurde das Bodenexercise geboren.“
1945 gründet er mit Unterstützung seines Vaters das Ballets des Champs-Élysées und schafft Werke wie Les Forains, Le Rendez-vous, Le jeune homme et la mort. Petit sucht die Nähe anderer Künstler, lässt sich inspirieren von Henri Sauguet, Joseph Kosma, Picasso, Christian Bérard, Georges Wakhevitch, Brassaï, Boris Kochno, Jean Cocteau, Jean Prévert. 1948 geht er einen Schritt weiter, gründet die Ballets de Paris und choreografiert Les Demoiselles de la nuit für Margot Fonteyn.
Ein Jahr später entsteht Carmen – für seine Frau Zizi Jeanmaire. Die Uraufführung in London wird zur Visitenkarte für eine Weltkarriere. Endlich kann er seine Leidenschaft für Revue und Film ausleben: Hollywood ruft. In den folgenden vier Jahren arbeitet er mit Zizi Jeanmaire und Danny Kaye (Hans Christian Andersen, 1952), mit Fred Astaire und Leslie Caron (Daddy Long Legs, 1954), mit Bing Crosby (Anything Goes, 1955). Besonders seine Zusammenarbeit mit Astaire erinnert er mit leuchtenden Augen: „Fred bat mich um Hilfe – aber er war ein so genialer Tänzer, dass ich ihm nach einer Woche sagte, ich wüsste nicht, was ich ihm noch beibringen könnte. Trotzdem wollte er, dass ich weitere sechs Monate mit ihm arbeite.“
Neben George Balanchine war Petit einer der europäischsten Choreografen Amerikas – und zugleich der französischste unter ihnen. Seine Ballets de Paris gastierten regelmäßig in New York, doch letztlich zog es ihn immer wieder zurück nach Paris. Von Beginn an verband er Tanz mit Musical und Film. Aus Amerika brachte er das Musical mit und passte es dem französischen Geschmack an. Er inszenierte Marcel Aymés Operette (Musik: Guy Béart, Kostüme: Bernard Buffet), verfilmte 1960 Black Tights mit Moira Shearer, Cyd Charisse und Zizi Jeanmaire, und feierte riesige Erfolge mit der Revue Zizi, für die Yves Saint Laurent die Kostüme entwarf.
1965 kehrt er nach mehreren Welttourneen zurück nach Paris. An der Oper entstehen Adages et Variations, Notre-Dame de Paris und, 1966 am Théâtre des Champs-Élysées, L’Éloge de la Folie.
Petit hat fast jedem großen literarischen Stoff seinen Stempel aufgedrückt. „Ein Choreograf ist wie ein Schriftsteller. Ich hatte immer viele Ideen – das Schwierigste war, zu entscheiden, welche ich umsetze. Einmal saß ich im Zug von Mailand nach Paris. Zum Glück hatte ich Papier dabei. Als ich ankam, war das Ballett fertig – nur die Musik fehlte noch.“
Für Erik Bruhn schafft er La Chaloupée (1961), für Fonteyn und Nurejew Paradis perdu und Pelléas et Mélisande (1967–1969), für Nurejew und Luciana Savignano Estasi (Musik: Skrjabin).
1970 wird er zum Direktor des Balletts der Pariser Oper berufen – tritt jedoch nach sechs Monaten zurück. Stattdessen kauft er das Casino de Paris und kreiert neue Musicals (La Revue, Zizi je t’aime), erneut mit Kostümen von Yves Saint Laurent. Doch auf dem Höhepunkt seines Erfolgs muss er das Casino 1972 aus steuerlichen Gründen schließen. „Wenn sich eine Tür schließt, öffnen sich zwei neue“, sagt Petit.
Gaston Defferre, Bürgermeister von Marseille, bietet ihm an, am Opéra municipal eine neue Compagnie zu gründen: Ballets de Marseille, ab 1981 Ballet National de Marseille. Die erste Premiere: Allumez les étoiles, nach einem Gedicht von Wladimir Majakowski, beim Festival d’Avignon im August 1972.
Marseille liebt ihn – und er Marseille. Seine Vielseitigkeit, seine Erfahrung machen die Compagnie zu einer der führenden Europas. „Ich war immer inspiriert von Literatur, Musik, Malerei – ich hatte die Vision eines totalen Theaters. Ich habe für viele Häuser choreografiert: die Pariser Oper, die Scala, das Bolschoi, San Francisco Ballet, Tokyo Ballet… Aber wenn Sie mich fragen: Nur etwa zwanzig Ballette liebe ich wirklich. Welche ich nicht gelungen fand? Das verrate ich nie“, lacht er.
Auf meine Frage nach der Kritik reagiert er offen: „Wissen Sie, entweder man liebt Sie oder nicht. Es gab einen Kolumnisten bei Le Figaro, der mochte meine Arbeit nicht. Jahre später rief er mich an – er hatte mein neuestes Ballett gesehen und war begeistert. Wir wurden Freunde. Oder Clive Barnes aus New York – ich kenne ihn seit 1946. Auch er schreibt, was er denkt – so wie ich choreografiere.“
In den folgenden Jahren entstehen neue Ballette, Shows – darunter das berühmte Pink Floyd Ballet – und 1992 gründet er die École Nationale Supérieure de Danse de Marseille. „Ich brauche zuerst eine Geschichte. Das lässt sich nicht vorbereiten – es ist Glück, Intuition, das Finden des richtigen Stoffs, der passenden Musik. Meine Tochter Valentine bat mich einmal, Pink Floyd zu hören. Ich hatte keine Ahnung, was daraus wird – und choreografierte ein ganzes Ballett.“
Für Petit ist der Choreograf ein Regisseur eines grenzenlosen Tanzvokabulars. Jede Geste müsse Leben tragen, verführen, aufrütteln – auch dekadent sein, warum nicht? „Alles ist erlaubt, wenn der Choreograf mit Körper und Geist die richtige Sprache für den Tanz findet.“
1992 nimmt Petit nach 26 Jahren in Marseille mit Le lac des cygnes et ses maléfices Abschied – doch er bleibt unermüdlich. Seine Werke gehören zum Repertoire der großen Häuser weltweit, seine Soiréen führen ihn von Boston bis Peking, von Paris bis Tokio. Sein Terminkalender reicht bis ins Jahr 2009.
Sein Erfolgsgeheimnis? „Arbeit – kombiniert mit etwas Glück und Fantasie. Dann ist alles möglich.“ Und hat er überhaupt Freizeit? „Ja, ich bewege mich – von Zeit zu Zeit…“
Die Soirée
Am Abend, im prachtvollen Grand Théâtre de Genève, ist das Publikum gekommen, um dem großen Künstler seine Reverenz zu erweisen. Die Tänzerinnen und Tänzer wurden von Roland Petit persönlich für diesen Abend ausgewählt. Organisiert wurde die Gala von Semper Gestion de Patrimoine SA zugunsten der Claire Bois Foundation für Schwerbehinderte.
Eléonora Abbagnato und Hervé Moreau, beide Erste Solisten der Pariser Oper, begeistern mit Ausdruckskraft und tänzerischer Raffinesse – besonders im Carmen-Pas de deux. Svetlana Lunkina, Primaballerina des Bolschoi, tanzt La rose malade mit vollendeter Zartheit, begleitet von Artem Shpilevsky oder Lienz Chang (Notre-Dame de Paris).
Alle Fotos: Mit freundlicher Genehmigung von Grand Théâtre de Genève © Isabelle Meister



Der Abend bietet nicht nur Erhabenheit, sondern auch Humor: Luigi Bonino glänzt mit seinen urkomischen Miniaturen aus dem Chaplin-Ballett (Les Petits Chaussons, Je cherche après Titine) und Danse avec la poupée. Altan Dugarai (Boston Ballet) begeistert mit Soli aus dem Pink Floyd Ballet (Run like Hell) und dem Duke Ellington Ballet (The Opener), doch noch übertroffen wird er von Stéphane Bullion und Hervé Moreau im Duett aus Proust.
Roland Petits choreografisches Flair ist an diesem Abend spürbar bis in die letzte Reihe. Kein Wunder, dass das Publikum Zugabe um Zugabe fordert. Und als der Meister selbst zum Schluss in Cheek to Cheek tanzt, wirkt er, als spiegle sich die jugendliche Energie seiner Tänzer in ihm selbst.