Stephan Thoss und das Ensemble Tanz am Nationaltheater Mannheim feiern mit drei Stücken das orchestrale Meisterwerk von Maurice Ravel, der in diesem Jahr 150 Jahre alt geworden wäre.
Von Alexandra KARABELAS
Betörend: Am Nationaltheater Mannheim feierte Tanzdirektor Stephan Thoss mit seinem Ensemble den 150. Geburtstag von Maurice Ravel – genauer gesagt: jenen des „einzigen Meisterwerks“, das der französische Komponist nach eigenen Worten je geschaffen habe, nämlich den „Boléro“. 1928 an der Pariser Oper uraufgeführt, zieht das als Tanzstück komponierte Orchesterwerk durch seine strenge Struktur, die stetige Wiederholung identischer melodischer und rhythmischer Elemente sowie die unaufhaltsame Steigerung bis zum finalen, geradezu schreienden Höhepunkt bis heute Tänzerinnen und Tänzer weltweit in seinen Bann.
Drei von ihnen – die Israelin Anat Oz, die Amerikanerin Rebecca Lauffer und der Niederländer Mats van Rossum – lud Thoss nach Mannheim ein, um neue „Boléro“-Interpretationen zu schaffen. Ergänzt wurde das Programm durch die Wiederaufnahme seiner eigenen, 26 Jahre alten Fassung von 1999, die nichts von ihrem Genius eingebüßt hat. Im Gegenteil: Die Idee, das ekstatische Meisterwerk – womöglich als augenzwinkernde Hommage an Ida Rubinstein, für die Ravel den „Boléro“ komponiert hatte – in Form eines skurrilen Damenkaffees zu inszenieren, bei dem sich sechs Frauen hinter verschlossenen Türen einmal wöchentlich in zunehmendem Kontrollverlust Ravels Musik vom Plattenspieler hingeben, ist so charmant verrückt wie liebevoll. Man wird schmerzhaft daran erinnert, wie sehr man im heutigen, oft dystopisch geprägten Tanztheater kurze, intelligent choreografierte Erzählungen vermisst, die auf moralische Botschaften verzichten und stattdessen das menschlich Allzumenschliche auf die Bühne bringen: das Verborgene, Skurrile, Schrullige.

Reiko Tan, Lorenzo Angelini, Anna Zardi, Paloma Galiana Moscardó, Arianna Di Francesco und Dora Stepušin “17 Minutes”, Ch. Stephan Thoss © Natalie Grebe
Thoss, dessen inhaltliche und choreografische Vielfalt längst den Deutschen Tanzpreis verdient hätte, lässt sechs markante Charaktere auf die Bühne schlurfen – gezeichnet von Gebrechen wie Rückenleiden, Gicht oder steifen Händen. Einer von ihnen: eine Ex-KGB-Agentin im Rentenalter, deren Härte durch Jahrzehnte ungebrochen ist. Thoss’ Tänzerinnen und Tänzer, seit jeher auch brillante Schauspielerinnen und Schauspieler, wachsen einmal mehr über sich hinaus. Ob Dora Stepusin, Reiko Tan, Anna Zardi, Arianna Di Francesco, Paloma Galiana Moscardó, Lorenzo Angelini oder Leonarcho Cheng – alle vereinen groteske Mimik mit fesselnder Körperlichkeit. In den Gruppenszenen schimmern gar Vorboten viel späterer, düsterer Ensemblewerke von Marcos Morau oder Sidi Larbi Cherkaoui durch.
In dieselbe „Reichweite“ zielt Anat Oz’ „One More Time“, ausschließlich für acht Männer choreografiert. Das Setting – ein rot ausgeleuchteter Raum mit hoher Tür – evoziert zunächst Assoziationen zu Pina Bauschs „Café Müller“ – wenn auch ohne umkippende Stühle. Die Männer, anfangs in Businessanzügen, lassen buchstäblich die Hüllen fallen. In einer kunstvoll verzahnten, vielschichtigen Choreografie blitzen immer wieder Momente von Verletzlichkeit, Nacktheit und Sensibilität auf, während Musik und Gruppenzwang unbarmherzig zum Weitertanzen treiben. Wenn die Tänzer schreiend in Ravels Finale stürzen, hebt das Publikum innerlich mit – nicht ohne eine Spur Verzweiflung.

Luis Tena Torres (links) und Albert Galindo in “The One More Time”, Ch Anat Oz © Natalie Grebe

Arianna Di Francesco, Albert Galindo und Ensemble in “Sheepshead Bay”, Ch. Rebecca Laufer & Mats van Rossum © Natalie Grebe
Ganz anders, aber nicht minder effektvoll, greifen Rebecca Lauffer und Mats van Rossum den „Boléro“ auf. Ihre Version „Sheepshead Bay“ spielt in einer New Yorker Bar, in der sich Mafiosi zu ihren Machtspielen treffen. Der „Boléro“ erklingt zunächst bruchstückhaft aus einem Radio, das der betrunkene Protagonist – fulminant getanzt von Joseph Caldo – kurzerhand zerschießt. Danach mischen sich düstere elektronische Klangflächen in die Szene, die am Ende nur noch als Arena eines blutigen Showdowns dient – wie man ihn aus den besten Mafia-Epen Hollywoods kennt. Jede Szene trägt das Potenzial eines packenden Musicals in sich: Showeffekte, Dunkelheit, gedehnte Zeit, mysteriöse Figuren. Lauffer und van Rossum vereinen all diese Elemente virtuos. Und doch fragt man sich am Ende: Wo bleibt die überindividuelle Relevanz dieses makellos gemachten Stücks?
Trotz dieser leisen Irritation verlässt man beschwingt das Alte Kino Franklin – dank eines grandiosen Ensembles, das den „Boléro“ an diesem Abend gleich drei Mal neu belebte.
			




